Montag, 10. Juli 2023

Wie viel "Ich" steckt eigentlich in jedem von uns?

 Ich muss etwa 22 gewesen sein, als ich - in einem, wie mir damals schien, riesigen Kummer gefangen - eine Freundin anrief, um mich weiter bei ihr auszuheulen, nachdem sie im Thema eh mit drinhing und wir auch schon darüber geredet hatten.

Getreu dem Motto "in medias res" muss meine Stimme wohl recht weinerlich geklungen haben, als ich vermeldete, wer am Telefon sei, doch als ich vernahm, dass am anderen Ende gar nicht die Freundin selbst, sondern ihre Schwägerin den Hörer abgenommen hatte, schaltete ich innerlich sofort um und der zu Hause antrainierte Grundsatz "über Gefühle spricht man nicht", schon gar nicht mit Fremden, gewann die Oberhand, d.h. es folgte kurzer (gefühlsneutralisierter) Smalltalk.

Was mir später fast hämisch als Schauspielerei ausgelegt wurde und mich noch lange verfolgte.

Die, die angerufen hatte, war die echte "Rex-Mama" gewesen, die, die dann umschaltete, halt die wohlerzogene, die sich am Riemen reißt und andere nicht mit dem eigenen Gefühlschaos behelligt, schon gar nicht, wenn es sie überhaupt nicht betrifft.

Die Tage passierte mir etwas, das mich irgendwie daran erinnerte, denn eine Bekannte hatte um einen Anruf gebeten, doch als ich endlich die Zeit dafür fand, war es ein schlechtes Timing, denn nun hatte sie Besuch und wollte mit diesem trotz der irren Hitze gerade zu einem Spaziergang aufbrechen.

Hui, dachte ich, wie positiv sie klingt, so haste sie lange nicht erlebt. Das beinahe Forsche in der etwas zu lauten Stimme, das freche Lachen, die Tatkraft, es wirkte völlig anders, als ich sie sonst wahrnehme, und erst als sie gestern wieder so leidend klang wie immer, kam mir der Zusammenhang - unter der Woche hatte ja jemand mitgehört, jemand, dem gegenüber sie eine andere Rolle ... nicht spielt, sondern einnimmt als im Zusammenspiel mit mir.

Tatsächlich hat das gar nichts mit Schauspielern zu tun als vielmehr mit Konstellationen, denke ich.

Als kleine Kinder wurden wir oft in den Keller geschickt, um Kohlen und Bier nach oben zu schaffen, und dieser Keller war wie in Mietshäusern damals üblich groß, verwinkelt und hinter den vielen Gitterverschlägen schienen sich überall Monster im Halbdunkel zu verbergen.

Ich hatte gehörig Schiss davor, aber da war ja noch der kleine Bruder, der sich mit seinen fünf Jahren noch viel mehr ängstigte als ich, wo ich doch immerhin schon stolze sieben Lenze zählte.

Und genau diesem Umstand, das es nämlich jemanden zu beschützen galt, war es zu verdanken, dass ich mich zusammenreißen und die große Schwester geben konnte, in derem Beisein er sich sicher fühlen sollte.

Wie anders hätte das ausgesehen, hätte ich selbst ältere Geschwister gehabt oder wäre gar ein Einzelkind gewesen?

Dann wäre wäre ich in der Rolle der Kleinen, Schutzbedürftigen gewesen und hätte vermutlich meine Ängste voll ausgelebt, statt sie aktiv zu bekämpfen, von daher komme ich immer ins Grübeln, wenn ich von Dingen wie "sich selbst verwirklichen" lese.

Was genau soll das sein und welches Ich ist da gemeint, das man "verwirklichen" soll, wenn doch jeder von uns so viele Facetten in sich trägt und es eigentlich nur vom Drumherum abhängt, welche davon wie stark zum Vorschein kommen?

Wir Menschen sind von der Natur als Omnivoren, also Allesfresser ausgestattet worden und ursprünglich wahre Anpassungswunder, die sich aus einer reichhaltigen Palette von tierischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln zu ernähren und ihrer Umwelt dementsprechend anzupassen wussten.

Wie sonst hätte unser Fortbestand sogar in der Arktis, aber eben auch in der Wüste funktionieren können, während Arten, die sich zu sehr spezialisieren, bei der kleinste Veränderung der Lebensumstände sehr schnell vom Scheitern, sprich Aussterben bedroht sind ...?

Will sagen, unser Vorteil liegt in der Flexibilität und je mehr ich mich auf nur eine oder wenige Seiten in mir konzentriere, weil ich diese für mein einzig wahres Ich halte, umso schwerer mache ich mir das (Über-)Leben doch selbst, oder?

Authentizität, was ist das eigentlich?

War meine Mutter authentischer als ich, indem sie ihre fast immer schlechte Laune voll auslebte und vor allem an uns anderen abreagierte, obwohl wir überhaupt keine Schuld daran trugen?

Gerade lese ich im Internet, dass Selbsterkenntnis eine wesentliche Voraussetzung fürs Authentisch-Sein darstellen soll, in diesem Falle wäre sie dann so gar nicht authentisch gewesen, denn sich selbst zu hinterfragen, das lag ihr eher nicht, war es doch viel bequemer, den Schwarzen Peter bei allem und allen, nur nicht bei sich selbst zu suchen.

Da werde ich noch reichlich Stoff zum Nachdenken haben, immer auch im Hinblick auf besagte Konstellationen, denn wir drei Geschwister hatten ganz unterschiedliche Eltern, obwohl wir natürlich von den gleichen geboren worden waren, das fällt mir immer wieder auf.

Mein Bruder fiel z.B. aus allen Wolken, als ich kürzlich einmal Papas Traum erwähnte, nämlich das Häuschen im Grünen - den Stadtteil hatte er sich schon ausgesucht -, von dem er jahrelang träumte, auf das Muttern aber so gar keinen Bock hatte.

"Der fährt schön mit dem Auto rum und ich sitze dann da einsam auf dem Dorf ...", war einer der Sätze, die sie oft dazu sagte.

Warum mein Bruder davon überhaupt nichts mitbekam, ich weiß es nicht, war er noch zu klein oder hörte er vielleicht einfach weniger gut hin als ich?

Fakt ist jedenfalls, dass Papa hin und wieder auch später noch davon sprach, wenn er sonntagmorgens bei mir am Küchentisch saß und dabei auch öfter mal Rat, eigentlich sogar Hilfe suchte, weil er daheim wieder mal einen ganz schweren Stand hatte und genau wusste, dass ich mich im Gegensatz zu ihm von Muttern nicht mehr erpressen ließ.

Nein, über so etwas hätte er mit meinen Geschwistern niemals gesprochen, da blieb es eher bei der Vater- und dann auch der Oparolle für deren Kinder und so sieht heute jeder von uns ganz andere Menschen vor sich, wenn wir über die Eltern sprechen, obwohl es doch die gleichen waren.

... nur eben nicht dieselben. 😉

So, und nun muss ich eh aufhören mit solchen Gedanken, denn die Zeit rennt mal wieder.

Heute Mittag um 14 Uhr bin ich mit M. und seiner Familie verabredet, also werde ich meine Kekse doch noch los, es sei denn, gleich käme noch eine WhatsApp-Nachricht, dass der Kleine wieder kränkelt ... 😄

Sehr frisch dafür fühle ich mich auf jeden Fall, denn soeben entstieg ich der Badewanne mit einer eisekalten Wasserpfütze darin und stelle fest, für die Wasserrechnung wird das immerhin gut sein, weil man deutlich weniger davon verbraucht, wenn die Heizung außer Betrieb ist. 🤣


Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 😀


 

7 Kommentare:

  1. Hallo, Liebe "Rex-Mama!"

    Ob man sich vor jedem Mensch "fallen lassen" kann?
    Ich glaube, das schaffen nur die wenigsten.
    Meine Person gehört definitiv nicht dazu.

    Wobei es mir sagenhaft guttut zu berichten - von Glück, Leid und was mich gerade so beschäftigt.- hier im Blog.

    In die Anonymität hinein sich zu freuen und jammern tut einfach gut. - Nirgendwo bekommt man - so glaube ich - ein so unverfälschtes Feedback wie hier?

    Es gibt Menschen, denen vertraut man mehr, da hat man auch weniger Gewissensbissen sich einmal total fallen zu lassen und zu jammern. - Wobei so richtig ausheulen kann man sowieso nur bei Freuden und Familien (oder eben hier anonym im Blog).

    Man will ja auch gar nicht, dass jeder alles von einem mitbekommt! - Manchmal setzt man dann doch die Schutzmaske auf und versteckt sich dahinter. Wobei das sich manchmal völlig unnötig wäre, wenn man nur selbst mehr vertrauen in andere setzen würde?

    Ganz toller Blogbeitrag liebe "Rex-Mama", der mich sicher noch länger beschäftigen wird!

    Ich hoffe sehr, du wirst deine Kekse heute los und hast einen wunderbaren Nachmittag mit M, und Familie!



    Liebe -Glückskeckse-Grüße
    Vom lifeminder

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  2. Das mit dem Bloggen sehe ich ganz genauso, lieber lifeminder, und weißt du, was mir gerade kommt?
    Ich fände es unheimlich schön, wenn es eine Art völlig überdimensioniertes (virtuelles?) Buch gäbe, in dem jeder, der jemals auf dieser Erde lebte, es aktuell tut oder erst künftig leben wird, etwas hinterlassen könnte.
    Ob nun einen ganzen Blog, einen kurzen Eintrag, eine momentane Stimmung oder vielleicht auch etwas, das jemand anderer über ihn schrieb - irgendwas halt, das dafür sorgen würde, dass er niemals so ganz von dieser Welt verschwunden sein wird.
    Und womöglich fände sich auch immer wieder mal jemand, der dann irgendwann genau diesen Eintrag liest und sich vielleicht Gedanken macht, wie derjenige wohl gewesen sein mag. :-)))

    Liebe Träum-Grüße zurück! 😊

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    1. Hallo, Liebe "Rex-Mama!"

      Was für eine wundervolle Idee mit dem "überdimensionierten (virtuelles) Buch".
      Alleine die Vorstellung war es wert darüber nachzudenken.

      Uihh über den letzten Satz muss ich nochmals grübeln. Aber ich bin auch noch nicht ganz munter.


      Liebe - grübelnde Blogkommentare - Grüße
      Vom lifeminder

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    2. Ganz einfach, mein Lieber, dieses "überdimensionierte Buch" wäre ja quasi wie eine öffentliche Bibliothek - jeder kann hingehen und irgendwann findet sich vermutlich auch für den dünnsten Band, der in einer Regalecke steht, ein interessierter Leser.
      Es würde z.B. kaum noch ein Mensch wissen, dass mein Großonkel jemals existierte, würde ich ihn hier in meinem Blog nicht immer wieder erwähnen und damit ein bisschen lebendig werden lassen.
      Sein kleiner Sohn ertrank mit nur 7 Jahren, als im zweiten Weltkrieg die Edertalsperre bombardiert wurde, und gemeinsam mit den anderen Opfern ist er auf einem Gedenkstein vor der Kirche des Dörflis erwähnt.
      Wie schön wäre es, würde daneben noch ein kleiner Satz von ihm stehen, den er selbst schrieb oder sagte.
      Dann würde es einem viel bewusster, dass er sich in nichts von den heutigen kleinen Jungs unterschied, nur leider sein Leben nicht Leben durfte.
      Noch im alten Blog zeigte ich mal ein Foto mit Sprüchen, die die alten Römer beim Latrinenbesuch in die Wände ritzten.
      So etwas fasziniert mich, 2000 Jahre alte Graffitys, die deutlich zeigen, dass sich jeder von ihnen genauso lebendig fühlte, wie wir es im Moment tun.

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  3. Als kleiner Bub wurde ich auch in den Keller geschickt. Es gab davon gleich zwei. Im einen Keller führte eine steile Holztreppe nach unten und ich höre gerade noch welches Geräusch der schwarze Lichtschalter machte. Brote vom Bäcker wurden hier gelagert. Sie wurden aber immer bei uns selbst zubereitet , dann zum Bäcker gebracht, der die Wärme seines Profi-Ofen nutzte und später gegen einen kleinen Obulus wieder abgeholt werden konnten. Da spielte auch eine grüne Waage eine Rolle auf der die Brote gewogen wurden. Doch ich habe auch etwas zu deiner Überschrift zu sagen: Ich war nie ein EGOist . Auch nicht als bei der Firma EGO gearbeitet habe. Rex-Mama, ich war immer auf Ausgleich bedacht. Vielleicht ein Fehler.ich kann es nicht erklären. Und ja, da ich keine Geschwister hatte mußte ich mich auch gegenüber Niemanden durchsetzen. Heute ist es mir sehr wichtig, die Menschen mit ihrem Namen anzuprechen. Da bekomme ich immer eine positive Rückmeldung. Die Mitmenschen sind das nicht gewohnt. Eine Frau, die hier beim örtlichen Supermarkt arbeitet, ist nicht mehr an der Kasse zu finden. Sie ist offenbar "befördert "worden. Das freut mich für sie. Sie ist jetzt nur noch kurz angebunden , wie wir hier sagen. Das finde ich schade.

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    1. Gell, diese schwarzen Drehschalter meinst du, Helmut?
      Deren Klang habe ich nämlich auch noch im Ohr. :-))
      Genau wie die Schritte auf der Holztreppe, die es vermutlich überall gab, und ich fühle auch noch meine Angst vor den vielen Spinnweben, die dort unten herumwaberten.
      Das mit dem Brot finde ich interessant. Bei uns wurde gar keines selber gebacken, aber im Dörfli lernte ich das Backhaus noch kennen, quasi einen öffentlichen Backofen, den jeder Bewohner benutzen konnte.
      Genau wie es übrigens auch ein Gefrierhaus gab, wo jeder sich einen Verschlag mieten konnte.
      Mit dem "Ich" wollte ich übrigens nicht auf Egoismus heraus, sondern darauf, was dieses Ich überhaupt ausmacht und dass eben das immer vom Drumherum abhängt, also Prinzip von Sender und Empfänger.
      Mit Namen ansprechen, lach, als ich noch regelmäßig die Schriftführerin bei Wahlen gab, wurde uns immer ans Herz gelegt, niemals jemanden beim Namen zu nennen, aus Datenschutzgründen.
      So unterschiedlich kann man das sehen, wobei mir selbst aber Spitznamen wesentlich wichtiger sind als die, die wir mit der Geburt oder durch Heirat bekamen, weil sie so viel persönlicher sind.
      (Ich glaube, ich habe F. tatsächlich in meinem ganzen Leben noch nie mit seinem korrekten Vornamen angesprochen. 😀)

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  4. Das Ich - ein Produkt aus Archetypus und Sozialisation - was soll da sonst noch sein?
    lg Faradei

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