Um halb elf war ich mit A. verabredet und ging extra einige Minuten früher los, um mir den zweiten öffentlichen Bücherschrank anzusehen, auf den ich kürzlich in einem sozialen Netzwerk aufmerksam gemacht wurde.
Eine evangelische Freikurche hat ihn neben ihrem Eingang an der Hauswand befestigt, ein schmaler, aber hoher roter Kasten, in dem man eher einen Feuerlöscher denn Bücher erwarten würde.
Gut, dass ich nicht auf Verdacht einen Stapel mitgeschleppt hatte, denn beim Öffnen der Tür stellte ich fest, dass das Ding randvoll war, also keine Chance, dort etwas loszuwerden - ich werde wohl warten müssen, bis die Umbauarbeiten auf dem Marktplatz abgeschlossen sind und die einstige Telefonzelle wieder benutzbar ist.
Noch unter dem Eindruck des soeben Erlebten traf ich bei A. ein, begann spontan zu erzählen und war ziemlich verblüfft, dass sie im Gegensatz zu ihrem sehr viel besser Deutsch sprechenden Landsmann, der mich neulich so rüde angegangen war, sofort wusste, worauf ich mich bezog.
Allerdings verstand sie es zunächst so, dass ich auf der Suche nach Büchern sei, was ich - lach - ein wenig korrigieren musste, und der Einfachheit halber zeigte ich ihr das Foto von gestern, das ja für sich selber sprach. 🤣
Ganz große, runde Augen bekam sie: "Ohhh, sooo viele Bücher???"
Ob ich ihr das Foto schicken könne, damit sie es ihrem Mann zeigen könne, bat sie mich, denn so etwas habe der mit Sicherheit auch noch nicht gesehen. 😂🤣😂
Nun wurde sie ein wenig wehmütig, dachte an ihre eigenen Bücher, die wie so vieles anderes in der Türkei blieben, aber ... sooo viele seien es bei Weitem nicht gewesen.
Wie denn auch? Sie ist gerade mal 35 Jahre alt, also kann einfach noch nicht so viel zusammengekommen sein, auch wenn meine eigene Sammlung ... *hüstel* ... damals tatsächlich schon mehr als umfangreich war, aber das hängt mit meiner persönlichen Geschichte zusammen.
Lange Rede, kurzer Sinn, auch sie ist sehr interessiert an Literatur, und siehe da, es darf ruhig auch ein bissl weltlicher sein, denn sehr gerne liest sie wohl Romane und Krimis.
Ob sie sich das auf Deutsch schon zutraue, wollte ich wissen.
"Nein, nur kleine Bücher ...", sie zeigte auf das kleine Regal hinter der Tür und ich vertand, dass sie die Bilderbücher der Kinder meinte.
Ein Grund mehr also, intensiv mit ihr an ihren Sprachkenntnissen zu arbeiten, denn eines Tages wird sie sich dann bei mir nach Herzenslust bedienen können.
Wenn, hihi, wenn da nicht Rex wäre.
Panische Angst hat sie vor Hunden, genau wie ich sie ja einst auch hatte, und genau das erzählte ich ihr nun und versuchte gleichzeitig, ihr klarzumachen, wie viel Wunderbares ich daraus ziehen konnte, dass ich lernte umzudenken und mich für andere Lebewesen zu öffnen.
"Die Sprache ist, es, die man gegenseitig lernen muss, nicht anders eigentlich als bei uns beiden auch", erklärte ihr und beschrieb, wie es damals mit Püppi lief, wie ich ihr in die Augen sah und - Angst hin oder her - sofort wusste, dass sie zu mir gehörte.
So kamen wir vom Höcksken aufs Stöcksken und genossen es sehr, dass wir zum allerersten Male ganz allein waren, niemand sonst vor Ort, der uns zuhörte oder gar unterbrach.
Schokomuffins hatte sie gebacken, zuvor gab es Laugengebäck mit etwas Käse, Gemüse und einer würzigen roten Paste, dazu Tee und für mich eine Tasse Espresso und so machten wir nun alles parallel, aßen, tranken, quatschen, begannen aber auch ernsthaft mit ihrem Deutschkurs-Buch zu arbeiten.
Im Moment geht es ums Einkaufen, beispielsweise war ein Gespräch zwischen Verkäufer und Kunden dargestellt, dessen Einzelteile sie nun in die richtige Reihenfolge bringen musste, was ja das Verstehen der einzelnen Sätze voraussetzt.
Prima machte sie das und auch bei den Dialogen, die wir nun im Rollenspiel durchzogen, schlug sie sich gut.
Normalerweise ist ja sie es, die sich ein oder zwei Wörter notiert hat, zu denen sie dann alle Präfixe wissen möchte, die man voranstellen könnte, doch diesmal war ich es, die eine schon fertige Liste mitbrachte, nämlich zum Wort "fallen". Gefallen, zerfallen, wegfallen, missfallen, umfallen, hinfallen usw.
Und dann, hihi, wurden wirklich Hände und Füße, eigentlich sogar der ganze Körper nötig, um ihr die Unterschiede zu verdeutlichen.
A. (der kleine Sohn) sei gestern umgefallen, meinte sie, ich darauf: "Nein, er ist wohl eher hingefallen", und schon merkte ich wieder, wie einfach man als Muttersprachler mit allem umgeht, ohne sich viel Gedanken über die Feinheiten zu machen.
Die es in anderen Sprachen so meist gar nicht gibt. Immer wieder erwähnen die beiden ja, dass der deutsche Wortschatz den türkischen um ein Vielfaches übersteigt.
Übersetzer-Apps helfen da gar nicht weiter, im Gegenteil, wir gerieten ins Lachen, weil das Ding oft die krudesten Lösungen vorschlug, also kam nun der Körpereinsatz.
Anhand der Wasserflasche auf dem Tisch demonstrierte ich ihr, wie sie umfällt ...
"Also kann Mensch nicht umfallen?", wollte sie wissen.
"Doch", nun zeigte ich ihr mit dem hochgestreckten Unterarm, dass natürlich auch ein Mensch umfallen kann wie ein gefällter Baum.
Dann stand ich auf, erklärte das Wort "stolpern" und tat so, als würde ich durch die Teppichkante ins Straucheln geraten und dann ... hinfallen.
Und so weiter und so fort, manchmal muss ich wirklich meine ganze Phantasie zusammenkratzen, um ihr klarmachen zu können, worauf ich hinauswill, aber unterm Strich funktioniert es wirklich gut.
Zwischendrin musste ich mal kurz aufstehen, um meine Brille aus der auf dem Sofa abglegten Tasche zu fischen.
"Moment bitte, alte Frau braucht Brille ...", sagte ich augenzwinkernd zu ihr und stieß damit auf erheblichen Widerspruch: "Ha, alt? Duuuuu? Duuu bist nicht alt, duu sicher nicht ..."
Na, das hört man doch gerne und im Grunde muss ich ihr ja Recht geben, denn ich empfinde mich als alles, nur nicht als alt. 😀
(Gerade bringen sie im Radio, dass nun jeder einmal im Jahr die Angaben im Ausweis ändern kann. Wie wäre es denn, wenn das auch aufs Alter ausgedeht würde? Weil ich mich durch die dort genannte Zahl doch erheblich diskriminiert fühle? *fröhlich guck* 😁)
So ging es vergnüglich weiter, bis ihr nach etwa zwei Stunden der Kopf zu platzen drohte. Mein eigener hätte noch stundenlang so weitermachen können, aber es wurde eh Zeit, weil sie den Kleinen aus dem Kindergarten abholen musste.
Bevor ich meiner Wege zog, äußerte sie noch eine Bitte, und zwar stehe ein Freund von ihnen (auch dieses Wort übten wir wieder, weil sie das Rollen des "Rs" nicht lässt, obwohl sie es eigentlich kann 😅) im Studium kurz vor der Examensarbeit. Ob ich mir die mal ansehen könnte?
Na klar kann ich, zumal es sich um jemanden handelt, der hier aufwuchs, denn bei Nichtmuttersprachlern artet so eine Korrektur ganz schnell in heftige Arbeit aus.
Er könne mir die Arbeit gerne per E-Mail schicken, meinte ich, aber nun klang sie fast enttäuscht:
"Willst du ihn gar nicht kennen lernen?"
Doch, auch das natürlich herzlich gern und so vereinbarten wir, dass es dann eben ein Treffen bei ihnen geben wird.
Warum auch nicht?
Sehr spannend und höchst anregend, wie ich da so unvermittelt mitten in eine andere Kultur hineingeraten bin. Wer hätte das gedacht, als ich damals spontan auf M.s Anzeige antwortete und danach erst mal ordentlich ins Zögern geriet?
Zum Schluss packte mir dieses liebe Wesen noch Muffins und Laugengebäck für F. ein und wieder einmal hatte ich so gute Laune, als ich das Haus verließ, dass ich beschloss, kurzerhand noch einen draufzusetzen.
Vor einigen Tagen gab nämlich eine schon lange kränkelnde Orchidee auf der Küchen-Fensterbank endgültig ihren Geist auf und nun wollte der leere Topf wieder gefüllt werden.
Eine "Bergpalme" gönnte ich mir zum stolzen Preis von 1,95 Euro. 😀
Ende gut, alles gut, unnu geh isch Esszimmer, wie man es auf Neudeutsch formulieren würde. 😁
Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 😀
Also das Ganze noch einmal. Kürzlich erlebte ich den Einsatz einer solchen App hier vor Ort. Eine ältere Frau aus dem neuen Bundesland hielt meinem Bekannten ihr Handy unter die Nase auf dem der Weg nach der Apotheke gefragt wurde. Da wir uns in der Straße der Apotheke befanden deutete mein Bekannter auf das Schild. Gerdae habe ich mir auch so ne App auf mein Dodelphone geladen. Es scheint wirklich nicht schlecht zu sein. Freuen tu ich mich auf den kommenden Monat da geht es endlich wieder los mit dem ganzen Wahnsinn: Masken tragen und so weiter. Die Hysterie wird schon mal angefacht.
AntwortenLöschenStimmt, für so etwas sind solche Apps schon gut, nur eben dann nicht mehr, wenn es um sprachliche Feinheiten geht.
LöschenMasken tragen? Wo und warum denn?
Hab ich was verpasst?
Hallo, Liebe "Rex-Mama!"
AntwortenLöschenIch hatte doch glatt deine Freundinnen durcheinandergebracht.
Erst beim Lesen festgestellt, wenn du mit A. meintest.
Sehe ich das richtig, dass sich A immer mehr öffnet?
Offenbar auch eine Leserin und eine sehr sympathische Frau.
Ich bitte dich liebe "Rex-Mama" du bist natürlich noch lange, lange nicht alt. - Eine Frau im Besten Blogschreibalter. ;)
Ja unsere wunderbare Sprache hat wirklich viele Begriffe und Adjektive um zu Umschreibe und Beschreiben.
Die Bergpalme passt doch primat zu diesen Eintrag, auch heute hast du wieder so manchen Berg - hoffentlich ohne, dass dich jemand auf die Palme dabei brachte - überwunden um dich Verständlich zu machen und anderen zu helfen.
Liebe - Und ist der Hang auch noch so steil, a bisserl was geht allerweil." - Grüße
Vom lifeminder
Hast recht, lieber lifeminder, die A.s häufen sich bei mir, zumal auch der Sohn von dieser A. mit dem gleichen Buchstaben beginnt.
LöschenIch sollte mir ein neues Abkürzungssytem überlegen, vielleicht aA für die alte A., nA für die neue und kA für den Kleinen? 😂
Und ja, sie öffnet sich wirklich immer mehr, ist aber natürlich auch ein Unterschied, ob Ehemann und Kinder anwesend oder wir beide ganz alleine sind.
Bei unseren ersten Zusammenkünften war der Hintergrund der patriarchalen Kultur ja nicht zu übersehen, weil sie für M. und mich aufdeckte und sich selbst dann still in den Hintergrund verzog.
Das hat sich zum Glück gründlich verändert, nachdem ich immer wieder "ganz unschuldig" nachfragte, was das solle.
Sie habe schon in der Küche gegessen, mit den Kindern, hörte ich dann und überhaupt ging es damals noch sehr steif und förmlich zu.
Das hat sich alles in Luft aufgelöst und auch jetzt bei unseren Rollenspielen arbeite ich ständig daran, etwas mehr Lockerheit in die Sache zu bringen.
Es ist ein spannender Tanz zwischen Kulturen, Religion, Sozialisation und persönlichen Eigenheiten, den wir vollführen, und er macht wirklich Spaß. :-))
Liebe "Ich weiß, warum ich das Flachland liebe, da gibt es nämlich kaum Hänge"-Grüße zurück! 😀
Hallo, Liebe "Rex-Mama!"
AntwortenLöschenJa, nicht die Aa's streichen. Das hält mich wachsam und ich muss mich erinnern, was ich bei dir gelesen habe, außerdem kann ich mitraten, um welche Person es geht. - Deine Beiträge sind Blog & Denksportaufgabe in einem.
Liebe - wer a grüßt, muss auch b - grüßen (wenn er oder sie sympathisch sind)
Vom lifeminder