Mit diesen Worten machte mich eben F. in traurigem Ton auf sich aufmerksam, während ich die Blumen goss und er selbst noch über das Inhalationsgerät gebeugt am Küchentisch saß.
Natürlich wusste ich, was er meinte, denn heute vor 38 Jahren starb sein Vater mit nur 73 Jahren und schon ließen wir kurz wieder alles aufleben, dass uns beiden noch so präsent ist, als hätte es sich eben erst abgespielt.
Erst knappe sechs Wochen waren wir zusammen (obwohl wir uns zuvor schon rund drei Jahre mehr oder wenig flüchtig kannten) und hatten seitdem keine Nacht mehr getrennt voneinander verbracht, weil F. ja ab dem ersten Tag einfach bei mir einzog - da kannte der nix. 🤣
Allmählich blickte ich durch, dass es da auch noch dieses Haus im Schwarzwald gab, hier F. mit dem Familiensetter Rusty auf dem Weg zur Haustür:
Zu sieben Zehnteln gehörte es F., der dafür fast bis zum Umfallen in zwei Jobs gleichzeitig gearbeitet hatte, der Rest war Eigentum der Eltern, die ihren Anteil dann der Schwester überschrieben bzw. vererbten, was der Grund dafür war, dass er letztlich verkaufen musste.
Beide Eltern stammten aus den ehemaligen Ostgebieten, die Mutter aus Oberschlesien, der Vater aus Kanuas im heutigen Litauen, wohin seine hugenottischen Vorfahren einst geflohen waren.
Für mich eine etwas komplizierte Situation, in die ich da geriet, denn meine Eltern waren ja jung und hatten keine wirkliche eigene Vorgeschichte, d.h. sie hatten den Krieg zwar als Kinder erlebt, waren aber lange nicht so betroffen wie F.s Eltern.
Sein Vater war in der Heimat verheiratet, hatte drei Kinder und wurde dann zur Waffen-SS eingezogen, während der Verlobte der Mutter beim Untergang der Bismarck sein Leben verlor und sie sich allein auf die Flucht in den Westen machen musste, wo der Vater nach russischer Kriegsgefangenschaft ebenfalls irgendwann eintrudelte.
Seine Ehe war inzwischen geschieden, die komplette Familie holte er trotzdem irgendwann nach, hatte inzwischen aber auch schon F.s Mutter kennen gelernt und geheiratet.
So kam es, dass zwei schon etwas reifere Menschen um die 40 mit der Familiengründung begannen und F. dadurch Eltern hatte, die genauso gut seine Großeltern hätten sein können.
Der Vater wollte seine wohlverdiente Rente im Haus im Schwarzwald genießen, während die Mutter - sicher ihren Verlusten durch den Krieg geschuldet - auch mit 72 noch immer weiter arbeiten wollte, zumindest halbtags, also war man unter der Woche getrennt, Mann und Hund im Haus, Mutter und Sohn in Stuttgart, bis der Vater erkrankte, die Mutter im Job pausierte und fürs Erste ebenfalls hinauszog.
So war die Lage, als ich dazukam, und das gleich mitten ins Geschehen, denn F. hatte man seinen Führerschein abgenommen, immerhin das einzige Mal in seinem Leben.
Ich war es, die nun fahren musste, alle zwei Wochen ging es raus in den Schwarzwald und vielleicht war es ganz gut so, denn ohne diese Notwendigkeit hätte ich es mit Sicherheit nicht so eilig gehabt, seine Family kennen zu lernen, konnte doch keiner ahnen, wie ernst es schon um den Vater stand.
Nie werde ich das erste Aufeinandertreffen vergessen: Wir saßen alle auf den hohen Stühlen rund um den Esszimmertisch - der alte, meist schon bettlägrige Herr in seinem Bademantel inzspizierte mich regelrecht und befragte mich nach allen Regeln der Kunst.
"Ich habe gehört, Sie sprechen mehrere Sprachen?"
Dem war ja so und als ich erwähnte, dass auch Russisch dazugehörte, begann er merklich zu strahlen, denn dies war ja neben Deutsch seine zweite Muttersprache und so bekamen wir gleich einen recht guten Draht zueinander, auch wenn ich ihn insgesamt leider nur an drei Wochenenden noch erleben durfte und dies schon fast die letzte Gelegenheit war, zu der ich ihn auf seinen eigenen Beinen erlebte.
Am nächsten Tag ging er in den Garten hinaus, um nach seinem Knoblauchbeet zu sehen - F. und ich saßen am Küchentisch und auf einmal sah ich die Bescherung:
"Dein Papa ist umgefallen", sagte ich zu ihm und sprang auf, doch er war schneller, war mit einem Satz durchs geöffnete, ebenerdige Fenster hinausgesprungen, rannte zum Vater, hob ihn auf und trug ihn ins Haus.
Beim nächsten Besuch konnte er das Bett gar nicht mehr verlassen und das führte zu einem für mich sehr einschneidenden Erlebnis mit Rusty, dem riesigen und völlig unerzogenen Irish Setter.
Ich war ja zum Hundeschisser erzogen worden, hatte ohnehin ständig Panik vor dem Tier, doch nun ging auf einmal Geschrei los - der Vater vor Schmerzen, die Mutter, indem sie F. zur Hilfe herbeirief, denn der alte Herr musste ins Bad getragen werden.
Von jetzt auf gleich stand ich mit dem hächsterregten Rusty alleine im Esszimmer und musste doch irgendwie verhindern, dass er sich auch noch ins Geschehen rund um den Kranken einmischte.
Also sperrte ich uns beide ein, lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür in ziemlicher Gewissheit, dass ich gleich angegriffen und gebissen werden würde. 😮
Was dann netterweise nicht geschah, aber das wusste ich ja vorher nicht und wundere mich noch heute, wie ich es schaffte, mich ihm entgegenzustellen, denn ich verging wirklich fast vor Angst.
Danach sah ich den Vater nur noch ein einziges Mal, nämlich am 11. August 1985, dem Tag vor seinem Tod.
Er ließ mir ausrichten, ich möchte doch bitte zu ihm ins Schlafzimmer kommen, allein!
Was er dann in seinem ostpreußischen Dialekt zu mir sagte, hat sich mir tief eingebrannt, egal wie ratlos es mich in diesem Moment auch machte:
"Frääiiläiiinchen, verrrsprrechen Sie mirr bittääh ääines, blääiben Sie immerrr bäääi määinem Sohne ..."
"Ja, lieber Herr X, wie kann ich das versprechen, wo wir doch eben erst zusammen sind ...?
"Das spielt käääine Rrolle, es ist rrrichtig, wenn Sie bääi ihm blääiben, ich wäiß das ..."
Tja, das war das Letzte, was ich mit ihm erlebte in der kurzen Zeit, die uns vergönnt war, und immer noch staune ich, wie anders er mich offenbar wahrnahm als Frau und Tochter, denn diese beiden standen mir mehr als zögerlich, teilweise fast ablehnend gegenüber, nahmen mich wohl eher als Konkurrenz wahr um die Gunst des Sohnes und Bruders.
Ob er es wohl von irgendwo noch mitbekommt, dass ich seine Bitte tatsächlich erfüllt habe?
Toll wäre natürlich auch, wenn er noch sehen könnte, wie sich die ehemalige Hundeschisserin genau ins Gegenteil verkehrte, und dieses Thema ist es übrigens auch, was mich schon seit Tagen beschäftigt.
Vielleicht komme ich ja morgen dazu, mal was darüber zu schreiben, denn heute war es mir einfach ein Bedürfnis, noch einmal an F.s Papa zu erinnern, bevor seine Spuren auf dieser Welt irgendwann ganz verschwunden sein werden.
Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund!
PS: Eines fällt mir gerade noch ein, eine ganz winzige Begebeheit nur, die ich aber trotzdem als besonderen Moment empfand:
Ich war auf dem Weg zum Einkaufen, hatte zuvor noch etwas in der Sparkasse abklären wollen und überraschend sofort einen Beratertermin bekommen, bei dem auch die ältere und erfahrene Mitarbeiterin anwesend war, die damals schon involviert war, als es u.a. um unsere kurzzeitig verschollenen Sparbücher ging. Ich klärte sie auf, wie die Sache ausging, wir lachten und da auch mein aktuelles Anliegen hervorragend gelöst wurde, war ich bester Laune, als ich nun den Wochenmarkt überquerte.
Schon von Weitem hörte ich die Musik, schwermütige russische Lieder, doch auf einmal, just als ich des älteren Mannes angesichtig wurde, der sie einem Akkordeon entlockte, schwenkte er um auf den Kaiser-Walzer - hach, Walzer, wie ich sie liebe, schon fühlte ich mich wie in meinem langen Kleid auf dem Tanzschul-Abschlussball und deutete wohl ganz automatisch einen Tanzschritt an, bewegte die Schultern im Takt und den Trolley gleich mit. 😂
Der Musikant hatte mich genauso im Visier wie ich ihn und nun geschah es, dass wir beide wie auf Knopfdruck anfingen, uns anzustrahlen - ein winziger Moment nur, und das auch noch auf mehr als 20 Meter Entfernung, und doch hatte es fast etwas Inniges an sich, eine Sekunde des gegenseitigen Verstehens, obwohl er mit Sicherheit eine andere Sprache spricht als ich.
Es war der Genuss der Klänge, der uns verband und das Wissen, dass der andere sie genauso tief empfand wie man selber.
Ach, und dann war da ja auch noch das Pfund Salz, dass ich blöderweise nach dem Bezahlen liegen ließ.
Schon im Laden war mir ein Mann etwas unheimlich, der leise singend durch die Gänge ging, mehr schlich eigentlich, und immer wieder ohne erkennbaren Anlass stehen blieb, während er die ganze Zeit eine muslimische Gebetskette durch seine Finger gleiten ließ.
An der Kasse war er auf einmal hinter mir, fragte in gebrochenem Deutsch, ob er vordürfe und zeigte dabei auf den Becher Eiskaffee, den er neben der Kette in der Hand hielt.
Allzu gerne ließ ich ihn passieren, stutzte dann zwar, dass er nicht etwa mit seinem Becher verschwand, sondern nun in Höhe der Einkaufswagen herumstand, immer weiter mit seiner Kette spielend, wurde dann aber abgelenkt von der Hektik beim Kassieren.
Seit dem Umbau kann man die Waren nicht mehr direkt nach dem Scanner in den Wagen zurückpacken, sondern man hat dort nun ein Fach angebaut, in das sie hinunterrutschen sollen, was sie aber nicht tun, wenn die Kassiererin sie nicht mit Schwung schubst. Also bleibt einem nur, immer wieder um das genau in der Mitte störende Kartenterminal herumzuspringen, um die Sachen wahlweise von oben abzufischen oder eben doch unten am Ende zu entnehmen.
Peng machte es auf einmal und mein Salz lag am Boden - kein Problem, würde ich gleich wieder aufheben, doch nun kam mir erst das Bezahlen in die Quere - also wieder ums Terminal herumspringen und dann war da immer noch dieser Mensch, der nach wie vor Unbehagen in mir auslöste, weil er immer noch dort herumstand.
So kam, was kommen musste, ich vergaß das Bücken und merkte erst daheim, dass mein Salz nicht im Trolley war. 🙄
Hallo, Liebe "Rex-Mama!"
AntwortenLöschenDie Geschichte rund um "F's" Eltern würde auch einen prima Roman abgeben.
Man hat mit dir gelitten und mit dir gehofft, während des Lesens.
Mit Rusty wäre es mir nicht anders gegangen wie dir.
Wahrscheinlich wäre ich mehrere Tode währenddessen gestorben.
Aber schön welche Weitsicht der alte Herr offenbar noch hatte.
Er hat sofort erkannt, was das Beste für seinen Sohn ist!
Das mit dem Salz tut mir leid.
Aber vielleicht solltest einfach nochmal nachfragen, wenn du da öfters einkaufst, bist du ja bekannt, sicher glauben sie dir, dass du dein Salz verloren hast?
Ich kann mich ja gut in einer Menge von Menschen bewegen, jedoch wenn mir ständig einer nachschleichen würde bzw. immer wieder vor mir auftauchen würde, würde ich auch nervös werden.
Liebe - wir sind das Salz in der Suppe - Grüße
Vom lifeminder
Seufz, lieber lifeminder, die beiden Frauen sahen im Gegensatz zum Vater wohl ihren weiblichen Einfluss schwinden.
LöschenF. war ja bereits 32, lebte aber noch in der elterlichen Wohnung, war also noch nie eigenständig für alles verantwortlich gewesen und nun kam ich und riss ihn quasi aus seinem Kindchen-Status heraus, der für die beiden wohl ziemlich bequem gewesen war.
Das war ihnen nicht geheuer ... 🤣
Was Rusty angeht, glaub mir, ich bin vermutlich mehr als tausend Tode gestorben, denn nach dem Tod des Vaters begann die Mutter ja wieder zu arbeiten, in der gleichen Firma wie F., nur abends, so dass die sich den Hund mehr oder weniger in die Hand gaben und er ihn täglich mit zu mir brachte. Was dazu führte, dass ich mich in meiner eigenen Wohnung oft kaum noch zu bewegen traute, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich anfing mich gegen den Hund durchzusetzen.
Was übrigens erstaunlich gut klappte ...
Über mein Salz hat sich sicher der Nächste gefreut - 39 Cent, die kann ich gerade noch verschmerzen, es lag einfach an diesem Mann, denn diese Gebetskette, die er sich ständig durch die Finger gleiten ließ, dient wohl der "Lobpreisung Allahs" und wenn einer das sogar beim Einkaufen für wichtig erachtet, dann scheint ein fundamentaler Glaube vorzuliegen und in Verbindung mit der Singerei war mir das mehr als unheimlich, von daher behielt ich ihn lieber im Auge. ;-)
Liebe Vorsicht-kann-nie-schaden-Grüße zurück!