Freitag, 3. März 2023

Auf einmal ging's rund hier am frühen Abend

 Zum einen war da eine Umfrage, die nur zwischen 18 und 20 Uhr bearbeitet werden durfte, was dann letztlich aber gar nicht funktionierte, zum anderen wollte ich dringend ein paar Zigaretten stopfen, und dann kam mir mein Bruder dazwischen, der in seinem Keller auf Unterlagen des Vorbesitzers gestoßen war.

Sein Haus gehörte einst dem Bürgermeister und nach dessen Tod verkauften die Erben es zum Sonderpreis unter der Voraussetzung, dass der Käufer es "mit Inhalt" überehmen würde, sprich, es war nix ausgeräumt, was Brüderlein mehr als recht war.

Bis fast Mitte 40 hatte er als Junggeselle sehr frei gelebt in einem winzigen Häuschen mitten im Wald, sozusagen am Ende der Welt, und dementsprechend bescheiden war seine Ausstattung.

Da passte es prima, dass das große Haus komplett eingerichtet war, und zwar durchaus hochwertig, so konnte er z.B die Mieleküche einfach drinlassen mitsamt Töpfen, Pfannen, Geschirr, Besteck usw. Auch das Schlafzimmer übernahmen sie zunächst und konnten dann nach und nach ganz gemächlich anfangen, die Dinge auszutauschen oder eben so herzurichten, wie es für sie angenehm war - besser hätte das im Grunde nicht laufen können.

Aber dadurch ergab es sich halt, dass er immer noch auf Sachen stößt aus längst vergangenen Zeiten, jetzt ging es um einen Mietvertrag, den ein Hausbesitzer in Brandenburg mit einem Hauptfeldwebel Schmid abgeschlossen hatte, für 17 Reichsmark übrigens.

Dazu gehörten dann noch Unterlagen, die Auskunft geben, wie der Herr Schmid aus seiner Heimat in den Westen flüchten musste, also eine ganze Lebensgeschichte, und nun fragte mein Bruder, was um alles in der Welt man denn mit so etwas machen solle?

Einfach wegwerfen?

Da war er bei mir natürlich richtig, denn ich kann es ja auch nicht, solche Dinge in den Müll geben, die längst verstorbene Menschen auf einmal wieder lebendig werden lassen.

Aber bevor ich noch antworten konnte, piepste WhatsApp schon wieder, diesmal war es meine Freundin und Nachbarin, die ja schon zwei Tage vorher so dringenden Redebedarf kundgetan hatte.

Diesmal ließ ich alles stehen und liegen, sprang in eine Büx und eilte zu ihr hinüber, eh längst überfällig, denn obwohl wie die gegenüberliegenden Eckhäuser bewohnen, sehen wir uns in letzter Zeit verdammt selten, vor allem dem Umstand geschuldet, dass sie ein sehr stressiges Leben mit vielen Verpflichtungen führt, und auch dem, dass sich seit ihrer Scheidung und gleichzeitig Corona das nachbarschaftliche Miteinander in der Partyhütte sehr zusammengeschrumpft hat, die ja ihrem nun Ex-Mann gehört.

So brachte sie mich u.a. auf den neuesten Stand, was in meiner Umgebung so abgeht, vor allem aber hat sie einige mehr als heftige Wochen hinter sich, weil innerhalb von nur 4 Tagen beide Schwiegereltern starben, zwei getrennte "Baustellen", weil auch diese seit Jahrzehnten geschieden waren, und dann kam hinzu, dass sie ihren eigenen Vater im letzten Moment per Notarzt und Aufbrechen der Wohnung rettete, wo er drei Tage lang hilflos herumgelegen hatte.

Letzteren hatte sie zum Glück im Dezember nach mehreren Jahren des Darüberdiskutierens endlich dazu gebracht, Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung zu unterschreiben, so dass sie immerhin rechtliche Handhabe hat, aber trotzdem strömt nun sehr viel auf sie ein, die Beerdigungen, das Auflösen von Vaters Wohnung, weil er in ein Heim übersiedeln musste, und dann sind da ja natürlich auch noch die Gefühle zu bewältigen, die Trauer, nicht nur ihre eigene, sondern auch noch die ihrer Kinder, die das alles ja ebenfalls irgendwie verkraften müssen.

Belastende Situation und hinzukommt, dass sie sich mitten in einem Fernstudium befindet, das sie neben Arbeit, Haushalt, Kindern und allem Weiteren absolviert.

Am Samstag steht eine große Prüfung an - ich war übrigens baff, wie das von zu Hause aus abläuft.

Sie muss eine Dreiviertelstunde vorher bereitsitzen, mit einer speziellen Handyapp ihr ganzes Zimmer abscannen, damit belegt ist, dass sie keine unerlaubten Hilfsmittel verwenden kann. Das Handy kommt dann in einen Ständer, die Kamera läuft die ganze Zeit und filmt sie von der Seite, inkl. Tastatur und dem Bereich, in dem sich ihre Hände bewegen, während die Cam des Laptops ebenfalls zugeschaltet  und auf ihr Gesicht gerichtet ist - mehr Überwachung eigentlich, als sie vor Ort stattfinden könnte.

Nicht mal aufs Klo darf sie während der Prüfungszeit, alles mehr als streng.

Und nun überfallen sie immer wieder einmal plötzliche Zweifel, das Gefühl, was machst du da, gehörst du da überhaupt hin?

Was ich absolut nachvollziehen kann, wenn ich mir ihre Lebensgeschichte anschaue.

Aufgewachsen ist sie in mehr als prekären Verhältnissen, der Vater soff und prügelte, mehr als nur einmal landeten die vier Kinder in einem Frauenhaus mit der Mutter, die dann allerdings selber auch mehr und mehr dem Alkohol verfiel, nur noch dafür lebte und sich um nichts anderes mehr kümmerte, so dass sie und ihre Geschwister in einem üblen Chaos leben mussten, regelrecht verwahrlost, wenn sich nicht "Omma" ab und zu wenigstens etwas gekümmert hätte.

Natürlich war nicht mehr drin als ein Hauptschulabschluss, nach dem sie dann eine Lehre zur Sprechstundenhilfe absolvierte, wie das damals noch hieß.

Ganz raus aus dem Beruf war sie nie, obwohl sie neben ihren eigenen drei Kindern auch noch die drei ihrer Schwester aufzog, die mit ihrem Mann ein Partikulier-Schiff auf dem Rhein betreibt, d.h. ab dem Schulalter müssen die Kinder dann an Land bleiben.

Sobald diese Verpflichtungen es zuließen, stieg sie wieder voll in den Beruf ein, was ihr aber dank ihrer hohen Intelligenz nicht genügte, also folgte Weiterbildung auf Weiterbildung, was dann irgendwann auch gleichwertig mit Abitur war, so dass sie Zugangsberechtigung zum Studieren erhielt, was sie prompt nutzte, auch wenn jetzt auf einmal Zweifel kommen.

Und nun kam mein Moment, denn mehr als eindringlich machte ich ihr klar, wie sehr ich den Hut vor ihr ziehen, wie viel Hochachtung ich vor dem habe, was sie leistet

Mir selbst war diesbezüglich ja alles in den Schoß gefallen, geboren mitten in eine Bildungsbürgertums-Familie war es nie eine Frage, dass ich das beste Gymnasium der Stadt besuchen konnte, und vor allem hatte ich auch den Großonkel, der mir schon mit vier, fünf Jahren Lesen und Schreiben beibrachte, mich in die Geheimnisse des perspektivischen Zeichnens einweihte oder ab etwa 12 die Klassiker der Weltliteratur lesen ließ, während U. bis Mitte 30 nie ein Buch privat auch nur in der Hand hatte oder sonst irgendwie gefördert wurde.

"Nee, meine Süße", sagte ich, "diesen Zahn zieh dir mal gleich wieder, du bist absolut richtig dort, wo du stehst, denn ich habe kaum jemanden erlebt, der sich aus einem derartigen Sumpf so zielstrebig rausgepaddelt und immer weiter nach oben gezogen hätte, notfalls an den eigenen Haaren, weil es keinen anderen Halt gab. Du hast meinen allergrößten Respekt!"

So unterhielten wir uns mehr als fünf Stunden lang intensiv und angeregt, kamen vom Höcksken aufs Stöcksken, ob es nun um die Verstorbenen ging, um die Kinder, den neuen Hund im Hause, der es in sich hat, oder auch um Auszüge aus ihrer angedachten Hausarbeit, die sie mir teilweise vorlas oder Tabellarisches auf dem Handy zeigte.

Irgendwann kam die Frage, ob ich ihre künftigen Arbeiten korrekturlesen könnte, was ich selbstverständlich und gerne bejahte, genug Übung habe ich ja in so etwas, wobei es allerdings einen deutlichen Wermutstropfen gibt, denn diese Uni zwingt ihre Studenten zum Gendern, grrr... 😫

Tatsächlich hatten wir uns über dieses Thema noch nie wirklich ausgetauscht und es überraschte mich beinahe ein wenig, dass sie zu ganz ähnlichen Schlüssen kommt wie ich und sich dadurch als Frau eher herabgesetzt und nicht für voll genommen empfindet, weil sie aufgrund ihres Geschlechtes quasi eine Sonder- oder Außenseiterrolle zugewiesen bekommt, die nun ständig ausdrücklich erwähnt werden muss.

Den blöden Doppelpunkt zu setzen weigert sie sich konstant und nun erzählte sie, wie viel Mühe es sie in den bisherigen Arbeiten schon kostete, nach neutralen Ausdrücken zu suchen, um dies umgehen zu können. 🙄

Gerade mal ein wenig recherchiert dazu, ja, man muss wohl an etlichen Unis tatsächlich  mit Punktabzug rechnen, wenn man sich weigert sich dieser Ideologie zu unterwerfen.

Dreist ist das, mehr als dreist und nun juckt es mich beinahe in den Fingern, mich doch noch an einer Uni einzuschreiben, nur um dagegen mal so richtig aufzumucken ... 😁

Wie dem auch sei, mir ist schon klar, mit welchem Knirschgesicht ich ihre Arbeiten lesen werde, aber immerhin wird uns dadurch der Gesprächsstoff nicht ausgehen, von dem wir aber eh immer reichlich haben. 😊

Und nun teilt mir grad auch mein Bruder noch mit, wie es mit dem Hauptfeldwebel Schmid weiterging nach seiner Flucht aus der russisch besetzten Zone, denn auch wenn er mit nichts als seinem Leben im Westen ankam, brachte er es so schnell zu Wohlstand, dass er nur einige Jahre später das Haus bauen konnte, in dem nun meine Nichten aufwachsen, und zum Bürgermeister wurde er dann auch bald gewählt.

Spricht für die Aufnahmebereitschaft des Ortes, denn inzwischen munkelt man dort wohl schon hinter vorgehaltenen Händen, dass es gar nicht mehr lange dauern wird, bis meine thailändische Schwägerin dieses Amt innehaben könnte. 😅

So, und nun genug der Plaudereien, denn nun sollte ich losspringen zum Einkaufen, nachdem ich sicherheitshalber eine Kopfschmerztablette eingeworfen habe - eine normale, denn noch habe ich das Medikament vom Doc umgehen können. 😃


Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 🙂



6 Kommentare:

  1. Wow, ich bin ja ganz fasziniert von deiner Freundin und ihrem Ehrgeiz, es weiter nach oben zu schaffen. Ich bin aber auch fasziniert von der Weiterentwicklung der Fernstudienmöglichkeit.
    Meine beiden Kinder und meine Schwiegertochter haben damit Erfahrung.
    Sohn und Schwiegertochter haben ihr komplettes Studium so gemacht, aber sie mussten teilweise präsent sein, und ihre Examen mussten sie dort absolvieren, wo der Prof. las. Bei der Schwiegertochter war das Kassel, beim Sohn war es - zum Glück - Hamburg.
    Meine Tochter hat ein Fachhochschulstudium ganz "normal" gemacht und nach ein paar Jahren ein Aufbaustudium draufgesetzt. Das konnte sie nur in Österreich per Fernstudium und dort auch promovieren, aber auch da musste sie immer wieder persönlich erscheinen.
    Die Möglichkeit, die Prüfungen direkt mit Kameraüberwachung von zuhause ablegen zu können, hätte besonders meinem Sohn fasziniert. Hätte allen dreien auch viel Stress mit Urlaubstagen, Fahrt- und Übernachtungskosten erspart.

    Oh je, Haushalte auflösen zu müssen, ist ein Kapitel, das uns wohl alle betrifft....

    Für deinen Kopf wünsche ich dir alles Gute! Die Probleme mit den Fachärzten ist leider schon lange aktuell. Nicht nur für Kassenpatienten übrigens.

    Lieben Gruß :-)

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  2. Danke dir, liebe Hermine, und genau bei dieser Ärzteknappheit setzt ihr Studium übrigens an.
    Sagt dir Verah etwas? https://www.verah.de/
    Das hat sie neben anderen Zusatzausbildungen auch gemacht, ist längst erste Kraft in ihrer Gemeinschaftspraxis und dank dessen konnte sie nun direkt mit dem dritten Semester einsteigen in einen völlig neuen Studiengang, so neu, dass noch gar keiner weiß, wie sie sich nach dem Bachelor nennen darf.
    Auf jeden Fall geht es darum, dem Arzt dann eigenständig so zuzuarbeiten, dass er für immer weniger selbst benötigt wird, also z.B. Besuche bei bettlägerigen Patienten mit mobiler Ausrüstung wie EKG usw., so dass der Doc am Ende womöglich nur noch per Video zugeschaltet werden muss.
    Sie hat mir die einzelnen Module gezeigt, ganz schön umfassend alles, denn es geht nicht nur um Medizinisches, sondern auch um technische Möglichkeiten, Erstellen von Bilanzen, Kontakt mit Krankenkassen und Ämtern usw.
    Klingt für mich sehr sinnvoll und vor allem hat sie riesigen Spaß daran.
    Übrigens geht auch bei ihr nicht alles nur auf die Ferne, immer wieder mal erzählt sie, dass sie für einige Tage oder auch eine ganze Woche nach Dortmund zum Präsenzunterricht muss, aber da das nicht so weit ist und sie ein Auto hat, isses natürlich gut machbar.
    Vor allem auch toll, dass ihre Chefin voll hinter ihr steht, die beiden sind ein super Team und ich habe selten jemanden erlebt, der so in seinem Beruf aufgeht.
    Und was mir zudem auffällt und was ich ihr gestern auch sagte, ist, wie sich ihre Sprache und Ausdruckweise durch das viele Lernen verändern, wie sich ihr Horizont ständig erweitert.
    Seit 18 Jahren kenne ich sie nun und wir freundeten uns nach und nach an, seit ich in ihrem ersten Jahr hier ja drüben die Weihnachtsfrau geben musste.
    Von Anfang an verstanden wir uns prächtig, aber die Themen waren eben doch ganz andere, gingen kaum über ihren Alltag als junge Mutter, Kinder, Schule, Mucke, Tattoos und son Zeugs heraus, während sie sich nun für Dinge öffnet, die ihr damals völlig fremd waren und sie auch nicht die Bohne interessierten.
    Einfach eine Freude, das mit anzusehen und mitunter ja auch durchaus beteiligt zu sein. :-)

    Lieben Gruß zurück! :😉

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  3. Liebe Rex-Mama,
    wie schon öfter bin ich an einem Nebensatz hängen geblieben: wieso muss deine Freundin die Beerdigungen ihrer Schwiegereltern organisieren, wieso macht das nicht deren Sohn?
    Weiterbildung ist immer gut, erweitert den Horizont!

    Lieben Gruß

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    1. Weil es eine wie so viele Ehen ist, egal ob geschieden oder nicht, liebe Sparköchin, in der der Mann zwar aus dem Nichts ein Blockhaus errichten kann, aber mit solchen Aufgaben eindeutig überfordert wäre. ;-)

      Lieben Gruß zurück!

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  4. Tja, so eine Miele-Küche ist eine Anschaffung fürs Leben. Und wenn Pfannen und andere Sachen noch gut sind - warum nicht. Vor einiger Zeit habe ich mit einem Bekannten aus Waren an der Müritz gesprochen, der mir sagte, dass es auch heute noch keine einheitliche Bezahlung zwischen Ost und west gibt. Da hat Jemand vergessen was im Einheitsvertrag geschrieben wurde. Oder anders ausgedrückt: Papier ist geduldig. Beim Einkaufen habe ich heute recht unterschiedliche Preise erlebt: roter Paprika kostete hier vor Ort 2,99 Euro. Bei Aldi 3,29 und lose: 5,69 Euro. fündig wurde ich bei REWE zu 2,79 Euro. dort begenete ich auch einem alten Bekannten von mir, der mir erzählte, dass er seit einem Jahr "trocken" ist !!!

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  5. In diesem Falle dann sogar gleich noch mit für das Leben anderer Menschen, Helmut, denn mein Bruder wohnt nun auch schon seit fast 14 Jahren in dem Haus und zwar ersetzte er den alten Herd inzwischen, aber alles andere ist nach wie vor tipptopp, außerdem sieht sie in ihrem zeitlosen Design auch wirklich gut aus.
    Einheitliche Bezahlung gibt es in der Marktwirtschaft doch eh kaum, hier bei uns sind die Löhne z.B. auch deutlich niedriger als bei euch im Süden, was dann aber auch für viele Preise geht, von daher kann ich das Gejammere im Osten nicht so ganz nachvollziehen.
    Klasse übrigens, was dein Bekannter da geschafft hat, denn wenn jemand ein schwieriges Verhältnis mit Alkohol hat, ist es das Beste, was er machen kann, die Finger ganz davon wegzulassen.

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