Dabei ging es ganz harmlos los.
Für zehn Uhr war ich mit A. verabredet und da ich ja immer noch auf den ganzen aussortierten Büchern sitze, nahm ich eine Ladung davon mit in der Hoffnug, dass man sich im Caritasladen darüber freuen würde.
Was auch der Fall war und da die nette Dame zum Auspacken mit meinem Beutel nach hinten verschwand, hatte ich einen Moment Zeit, mich umzusehen.
Boah, hatte ich nicht am Morgen noch darüber nachgedacht, dass ich dringend mal eine neue Jacke benötigen würde?
Nun hing da eine und lachte mich regelrecht an. Kurz hineingeschlupft, jo, passte wie für mich gemacht, also mal fragen, was sie dafür haben wollen.
Wie bitte? Drei Euro fuffzich nur?
Tja, da war die Entscheidung schnell gefallen, denn natürlich verhaftete ich sie und nun hängt sie zum Trocknen auf der Leine - im Hintergrund von Rex bewacht. 😀
A. wurde sofort aufmerksam und da sie mit diesem Laden bestens vertraut ist, gab es gleich eine kleine Vorführung und sie zeigte sich sehr angetan.
Um Entschuldigung bat sie mich dafür, dass in der Wohnzimmerecke vor der Balkontür ein Wäscheständer stand, aber ich wischte das beiseite mit: "Hey, bei mir daheim steht auch grad einer herum, das ist völlig normal und absolut in Ordnung."
Erwähnenswert deshalb, weil es für mich ein weiteres Zeichen war, um wie viel lockerer das alles zwischen uns geworden ist. Diese anfängliche steife Höflichkeit, huch, da kommt Besuch ... alles wie weggewischt und genau das, was ich auch in unseren Sprachübungs-Rollenspielen immer versuche herüberzubringen:
Benimm dich am Telefon oder persönlich nicht, als hättest du einen Stock verschluckt - dein Gegenüber ist immer auch ein Mensch, also zeig ihm einfach, dass du ebenfalls einer bist. Lass es menscheln, dann klappt es in der Regel viel besser, immer schön locker halt ... 😀
Schon letzte Woche hatte sie in einem Nebensatz anklingen lassen, dass sie in der Erdogan-Türkei dank ihrer Nähe zur Gülen-Bewegung als "Terroristen" abgestempelt seien, ich war nicht weiter darauf eingegangen, aber aufgefallen war es mir schon und hatte mich auch durchaus zum Nachdenken gebracht, doch nun purzelte es förmlich aus ihr heraus.
Sie habe ein Buch, von einem deutschen (oder deutschsprachigen?) Autor geschrieben, in dem die ganze Gülensache wunderbar erklärt würde, und ... wenn sie es wiederhabe, würde sie es mir gerne geben, um dann zu hören, wie ich darüber denke.
(Und erneut erzählte sie in diesem Zusammenhang von der Angst, die sie vor hier lebenden Landsleuten haben, weil die meisten nun einmal Erdogan-Anhänger seien.)
Hm ... sofort sagte ich ihr, dass ich da aber auf jeden Fall gegenrecherchieren würde, denn ich versuche ja immer, Informationen nicht einseitig auf mich einwirken zu lassen, machte ihr also klar, dass sie durchaus mit Gegenwind in Sachen Gülen meinerseits rechnen müsse, was sie akzeptierte, nachdem ich ihr das Wort "recherchieren" erklärt hatte.
"Was will der Mann bzw. die Bewegung denn überhaupt, was sind die Ziele?"
"Bildung und ... Weltfrieden ..."
Hm, ein deutliches Hmmm, denn nachdem ich nachmittags daheim noch etwas im Internet stöberte, stieß ich auf sehr unterschiedliche Ansichten, aber manches ließ mich an etwas Sektenähnliches denken, zumal als ich auch noch las, dass viele Anhänger wohl einen gewissen Teil ihres Einkommens freiwillig abtreten.
Das erinnert mich an christliche Freikirchen und da schrillen bei mir gleich die Alarmglocken.
Andererseits erklärte sie mir aber, dass sie "Laizismus" für sehr wichtig halte und dass sie Religion vom Staat getrennt wissen möchte.
Und auch beim Thema Bildung stutzte ich noch einmal, so wichtig sie mir an sich ja auch ist, denn nun berichtete sie, dass der "Bildungsverein", wo ich vor einigen Monaten mit ihnen zu einem Grillfest war, ebenfalls zu der Bewegung gehört, so wie viele andere in Deutschland, und dass dort auch Nachilfeunterricht organisiert wird.
Das wiederum erinnerte mich an das, was eigentlich seit Jahren bekannt ist, aber kaum Beachtung findet, dass nämlich "Scientology" den deutschen Nachhilfemarkt nach Kräften unterwandert.
Extrem skeptisch bin ich, werde mir das Buch aber selbstverständlich durchlesen, zumal ich weiß, wie wichtig ihr meine Meinung inzwischen geworden ist.
Offenbar hatte ich genau den richtigen Riecher, als ich in den ersten Wochen immer wieder beobachtete, wie ihre Augen bei gewissen Themen zu leuchten begannen, z.B. auch als es um die Pflege bzw. auch das Zusammenleben mit alten Familienangehörigen ging.
Ich hatte damals auf Nachfrage erzählt, wie ich es einst rundweg ablehnte, mit Schwiegermuttern in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Stattdessen bestand ich ja darauf, dass wenn zusammen im Haus im Schwarzwald, dies nur mit separaten Eingängen geschehen dürfe, denn ich wollte F.s Mutter nicht ständig in meinem Bereich herumspazieren wissen.
Das lehnte sie ab, selber schuld - wäre sie nicht so stur gewesen, hätte sie ihre letzten Jahre nicht im Heim verbringen müssen.
"Ich habe auch nur ein Leben", sagte ich damals im Februar oder März zu M. und A., "und ich bin nicht bereit, mir das von irgendwem bestimmen oder kaputtmachen zu lassen. Punkt!"
Sehr nachdenklich reagierten sie, wohl, weil das Thema sie dank ihrer heimischen Traditionen noch viel mehr betrifft, und ich meinte besonders in A.s Augen deutliche Anerkennung zu sehen.
Nach den Erfahrungen mit ihrer Mutter, die ja ihr ganzes Leben unter die Knute ihrer Schwiegermutter gezwungen worden war, ist das ein ganz wichtiges Thema für sie und ... sie bezeichnet sich selbst als "Feministin".
Da prallen nun natürlich Welten aufeinander und leider machen uns die Sprachschwierigkeiten den Austausch nicht eben einfacher, auch wenn es immer besser klappt.
Wäre ich in ihrer patriarchalen Kultur oder in der unsrigen vor über 100 Jahren aufgewachsen, dann wäre ich womöglich auch zur Feministin geworden, einfach, weil es da viel an Rechten und Gleichstellung einzufordern gab bzw. gibt, aber grundsätzlich und so, wie ich nun einmal gestrickt bin, gibt es wohl gar keinen passenden Ausdruck für mich, keine Denkrichtung, der ich mich zugehörig fühle.
Ich selbst lehne es komplett ab, uns Frauen wie eine bedauernswerte Randgruppe mittels Gendern "sichtbarer" zu machen, und würde mich auch mit Händen und Füßen dagegen sträuben, einen Posten per Frauenquote zu bekommen, denn ich ziehe es deutlich vor, mit Qualifikation und Persönlichkeit zu überzeugen, statt künstlich und nur wegen meines Geschlechtes gepusht zu werden.
Von daher gehe ich mit Begriffen wie Feminismus vorsichtig um, weil mir da zu leicht übers Ziel hinausgeschossen wird und man meiner Meinung nach damit immer wieder Trennendes hinzufügt und am Ende womöglich das Gleiche in Grün hat, nur eben andersherum, was ja nicht Sinn der Sache sein kann.
Wir Frauen - ihr Männer ... wir sollten nicht so viel auf die Unterschiede achten, denn in erster Linie sind wir alle einmal Menschen und Frauen sind keinesfalls von Haus aus die besseren, von daher liegt mir ganz schlichter Pragmatismus eindeutig näher als jedwede Ideologie.
Zumindest aus meiner Kultur heraus kann ich das für mich so sagen, für A. sieht es natürlich deutlich anders aus mit ihrem Spagat zwischen verkrusteten Traditionen und der westlichen Welt.
Schwierig, sehr schwierig alles und dann kommt noch das Kopftuch hinzu.
Gerade las ich einen langen Artikel einer muslimischen Feministin, die es ebenfalls trägt und davon erzählt, welche Konflikte sich dadurch zu westlichen Feministinnen auftun.
Kann ich bis zu einem gewissen Punkt alles nachvollziehen, doch was mir fehlt, ist die Begründung fürs Verhüllen.
Es ist mein eigener Wille, seufz, das ist mir zu "billig", denn muss man dann nicht hinterfragen, wo genau dieser "Wille" herkommt?
Glaubt man wirklich daran, dass es Gott ist, der das von einem erwartet?
Wer hat denn Bibel oder Koran geschrieben? War das der jeweilige Gott selbst oder vielleicht doch Männer, die natürlich die damaligen Sitten und Gebräuche darin festhielten, festhalten mussten, um den Menschen etwas Vertrautes anzubieten?
Eben das ist der Grund, warum ich mich so viel mit der Antike beschäftige - ich will verstehen, aus welchem Kontext heraus diese Dinge entstanden, und selbstverständlich lasse ich mir als selber denkendes Wesen von niemandem vorschreiben, was ich hinterfragen darf und was nicht.
Seuuufz, das ist nur ein kleiner Auszug aus den vielen Grübeleien, die mich gerade beschäftigen, und eines ist klar, da gibt es noch jede Menge Redebedarf und ich werde sehr viel Fingerspitzengefühl benötigen, denn natürlich muss sie ihre Richtung und das für sie Wichtige selber herausfinden, Hauptsache, sie schafft es mit Selber-Denken, statt eine Ideologie durch die andere zu ersetzen.
Und dann bekam ich noch eine Einladung, schon für den nächsten Weltfrauentag im März.
Der soll wohl in ihrem Bildungsverein besonders gefeiert werden und dort möchte sie mir, wie sie sagte, einige ihrer Bekannten sooo gerne vorstellen, zumal die wohl auch schon ganz neugierig auf mich seien ...
Wenn die sich da mal nicht zu viel von mir erwarten ... 🙄🤣
Abgesehen von diesen ernsten Themen hatten wir aber auch noch jede Menge Spaß, schafften sogar noch einige Kapitel im Deutschbuch - etliche Fragen hatte sie sich schon notiert gehabt, die es zu klären galt, und am Ende packte sie mir dann auch noch Laugengebäck und fast noch ofenwarmen Marmorkuchen für F. ein.
Ach ja, und eine selbstgemachte Quittenmarmelade servierte sie, so lecker, wie ich sie wohl noch nie gegessen habe.
Schee war's und nun muss ich husch in die Küche, um die Kartoffeln aufzusetzen, denn ganz früh habe ich heute schon einen großen Topf Sauerkraut zubereitet, richtig deftig mit Kasseler, Gulaschfleisch und reichlich Zwiebeln und Äpfeln in der Hoffnung, dass uns das nachher bestens munden wird.
Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 😉
Hach, und nun kommt gerade auch noch eine Nachricht von meiner lieben U., die offenbar frisch verliebt ist.
Es hört gar nimmer auf, dass ich gespannt bin wie ein Flitzebogen ... 😂🤣😂