Manchmal muss man sich einfach etwas trauen und kleine, scheinbare Zufälligkeiten zum Anlass nehmen, Bedenken und Fremdheitsgefühle kurzerhand beiseitezuwischen, um stattdessen aus dem Bauch heraus spontane Entscheidungen zu treffen.
Immer wieder nahm mein Leben durch solche "Kleinigkeiten" eine ganz neue Wendung, angefangen bei dem Tag, an dem ich in der elterlichen Küche die Stellenanzeigen las und - so absurd mir der Gedanke auch erschien - ausgerechnet auf die eines Privatdetektivs reagierte.
So landete ich in Stuttgart, weiteren "Zufällen" war es zu verdanken, dass aus den geplanten drei Monaten 12 Jahre wurden, ich sehr schnell beruflich mit dem Schreiben zu tun bekam und am Ende wieder hier in der Heimat aufschlug, mit F. im Gepäck.
So sehr ich Wert auf eine gewisse Struktur im Alltag lege, so wenig habe ich doch jemals die größeren Dinge vorausgeplant, ließ sie einfach auf mich zukommen, immer die Augen offen genug, um sie auch erkennen zu können.
Am 5. September 1996 wollte ich nichts als Fahrrad fahren, weil ich zu gern das Haus wiederfinden wollte, in dem ich einst mit meinem damaligen Freund wohnte.
F. hatte so gar keine Lust, wurschtelte viel lieber in seiner Garagen-Werkstatt herum und erst als ich ihn darauf hinwies, dass sich ja das Tierheim genau in diesem Stadtteil befand, hatte ich ihn beim Wickel, denn morgens hatte er in der Zeitung von einem Kampfhund gelesen, der dort im Zwinger saß.
Nie im Leben hätte ich einen Kampfhund haben wollen, eigentlich wollte ich überhaupt keinen Hund und ... kam doch wenige Stunden später mit einem nach Hause, denn in der Sekunde, in der mir Püppi hochaufgerichtet und auf Augenhöhe tief in die Augen schaute, war die Entscheidung eigentlich schon gefallen.
Inzwischen sind es mehr als 24 Jahre, die ich mit einem Hund zusammenlebe, und - so schwierig es mit Rex am Anfang oft war, ich möchte doch keinen einzigen Moment davon missen, zumal das einen ganz ordentlichen Entwicklungsprozess in mir in Gang setzte, denn zwangsläufig musste ich lernen, mich auch mal "von außen" zu betrachten, also z.B. wie wirkt das auf mein Gegenüber, wenn ich mich so und so verhalte, wie wird meine Körperhaltung interpretiert, wie meine Bewegungen, wie mein Tonfall?
F. staunt oft nicht schlecht, wenn ich ihm ankündige, was Rex gleich tun wird, es dann genauso eintrifft und für mich selbst ist es eine einzige Freude zu spüren, wie unsere meist wortlose und nur über Körpersprache laufende Kommunikation immer besser funktioniert, so wie es auch mit Püppi schon war.
Beispielsweise sind wir beide im Garten, ich gehe hinein, er beobachtet mich aufmerksam und will herausfinden, ob es ein Leckerli gibt, wenn er mir folgt.
Ein unmerkliches Kopfnicken, mitunter sogar nur ein Augenzwinkern genügen, dass er aufsteht und vor mir her in den Flur flitzt, wo er dann an der Gabelung zur Küche stehen bleibt, den Kopf aber schon in Richtung Speisekammer gewandt.
Hat er einen solchen Hinweis nicht erhalten, bleibt er entweder gleich im Garten oder er trottet mit hängendem Kopf zu seiner Decke, um sich seufzend abzulegen. 😁
Dieses intensive und sehr bewusste Zusammenspiel ist es, das mir so viel Freude macht, Wahrnehmen, Kennenlernen, aufeinander reagieren, mit anderen Lebewesen zu interagieren, zu kommunizieren, auf welchen Wegen auch immer - ich finde es sehr viel spannender und erfüllender, als vornehmlich um sich selbst zu kreisen.
Und genauso trifft das auf "meine" junge türkische Familie zu.
Wieder war es bloßer Zufall, dass ich ausnahmsweise mal auf eine Benachrichtigungsmail reagierte und die Nachbarschafts-App öffnete, was ich sonst wirklich nur höchst selten tue.
Es überraschte mich so positiv, dass ein Zuwanderer aktiv nach Kontakt zu Deutschen sucht, um unsere Sprache besser zu erlernen, dass ich ihn spontan anschrieb. Unterstützenswert fand ich das und wenn ich eigentlich nur ein wenig helfen wollte, entwickelte sich daraus etwas, das mich von Mal zu Mal mehr in seinen Bann zieht, weil es mit ganz viel ehrlicher Wärme verbunden ist.
Immer lockerer wird es, so standen z.B. gestern zum ersten Mal die Türen zu allen Räumen der Wohnung offen, in die ich zuvor noch nie einen Blick werfen konnte, und die Kinder verstecken sich nicht mehr scheu hinter den Eltern, sondern inzwischen gibt es bei meiner Ankunft erst mal ein großes Hallo im Flur.
Alsbald waren wir wieder mitten in ein munteres Gespräch verstrickt und ich merke, dass ich immer mehr dazugehöre, also keine Fremde mehr bin, für die die Kleinen in den Nebenraum geschickt werden, um für mehr Ruhe zu sorgen.
Leben eben, wie es nun einmal ist, wenn ein Dreijähriger und eine Siebenjährige mit an Bord sind, und kurz darauf durfte ich das frisch erhaltene Jahreszeugnis der Tochter bewundern.
Ihre Noten sind super, fast durchgängig im Einserbereich, aber was mich ungeheuer schockte, war der Umfang von sage und schreibe sechs Seiten.
Jedes Fach ist unterteilt in teilweise 10 Einzelbereiche, die die Lehrerin alle für sich bewerten muss, also unter Mathe z.B. "Addieren bis 100", "Subtrahieren bis 100", "Sicherer Umgang mit Zahlen" oder auch "Lagebeziehungen erkennen".
Bei Letzterem hatten weder ich noch M. als Mathe- und Physiklehrer eine Ahnung, was das überhaupt sein könnte, und alles in allem ist es wieder mal der helle Wahnsinn, was der deutsche Bürkokratenschimmel sich da ersonnen hat.
Abends tauschte ich mich noch mit meiner Schwester darüber aus, die ja Grundschullehrerin ist, allerdings in einem anderen Bundesland. Dort läuft es ganz anders, aber auch nicht in jedem Jahr gleich, mal gibt es Noten, nicht derart aufgesplittet wie hier, aber doch auch etwas unterteilt, und mal verzichtet man ganz darauf und sie muss stattdessen reine Textbeurteilungen schreiben.
Was für ein Durcheinander, was für ein Chaos und wie viel unnötige Bürokratie ... nicht zu fassen. 🤨
Dann kamen wir auf den Schwimmunterricht zu sprechen, der in der zweiten Klasse zwar bereits auf dem Stundenplan steht, aber oft ausfällt, und wenn er denn stattfindet, zeigt den Kindern überhaupt keiner, wie es geht.
Stattdessen bekommen sie Schwimmnudeln in die Hand gedrückt und sollen sich dann damit im flachen Wasser beschäftigen.
Ich ließ es mir von der Kleinen genau beschreiben, wie es abläuft, und war ein weiteres Mal fassungslos, denn so kann das ja nix werden.
M. erzählte, dass er nun versuche, einen Kurs für sie zu organisieren, was aber wegen Überfüllung gar nicht so einfach sei.
"Kannst du es ihr nicht selber beibrigen?"
Nein, er könne zwar grundsätzlich schwimmen, aber leider nicht sehr gut, meinte er - klar, wo sollte er es auch gelernt haben in seinem Dorf in der Türkei?
"Dann müssen wir beide wohl mal zusammen schwimmen gehen", sagte ich augenzwinkernd zum Töcherlein und dadurch, dass sie mich nun mehr als überrascht ansah, wurde mir bewusst, dass ich da etwas losgelassen hatte, das mit ihren Traditionen nur schwer vereinbar ist.
Ich wage zu bezweifeln, dass jemand aus dieser Familie jemals die Beine seiner Mutter sah, schon gar nicht nackt, also dürfte es ziemlich unvorstellbar für sie sein, dass ich mit ihnen schwimmen ginge.
Schon allein die Caprihose, die ich trug, kam ihnen womöglich recht gewagt vor ...?
Da haben wir's also wieder, dieses Aufeinanderprallen der Kulturen, und etwas später wurde mir bewusst, wie vorsichtig wir uns gegenseitig aneinanderherantasten.
Mir war schon aufgefallen, dass A. die ganze Zeit mit im Wohnzimmer herumsaß, d.h. zunächst hatte sie mir die Erklärung geliefert für das, was mich schon immer verwunderte, warum man nämlich in diesen Ländern auf die bei uns üblichen Couchtische verzichtet.
Sie trug zwei kleine Teewagen herbei, stellte einen gegenüber vor M. ab, einen bei mir und servierte uns kurz darauf kalten Kirschsaft, herrlich bei dem schwülen Wetter.
Nun aber spielte sie in Selenruhe mit dem Kleinen, mischte sich ab und zu in unsere Plaudereien ein, denen sie sowieso nebenher aufmerksam zu lauschen schien, nur von ihrem sonst üblichen Küchengewusele war nichts zu sehen.
Wie gesagt lief alles ganz locker und während ich das Kinder-Tablet bewunderte, das die Tochter zur Belohnung fürs gute Zeugnis bekommen hatte, sprang M. auf einmal auf und verschwand selbst in der Küche.
Nanu, dachte ich, was'n hier los, doch ein wenig erstaunt, als M. nun höchstpersönlich begann, hin und her zu laufen und diverse Dinge anzuschleppen und auf dem Esstisch aufzubauen.
Nicht lange währte mein Wundern, denn nun sauste auch die Kleine plötzlich los und kam mit einem quietschbunten Federmäppchen angeflitzt, das sie noch zusätzlich bekommen hatte.
Hach, da war natürlich ausgiebiges Schönfinden angesagt, erst recht, als mir dann auch noch auffiel, dass die Farben perfekt zu ihrer Leggins passten, und ich fühlte mich tief in mir sehr an meine Nichten erinnert und wie sie mir damals allmählich ihre kleinen Herzen öffneten.
Was musste "Pie-ss-a-u" damals nicht alles bestaunen an kleinen Schätzen, auf die sie so ungeheuer stolz waren, und wie sehr genoss ich das tiefe Vertrauen, das sie mir nach und nach zu schenken begannen.
Nun also auch die kleine B. und ... das tat mir ungeheuer gut, ich genoss es einfach, wieder einer dieser scheinbar kleinen Momente, die einem doch so viel bedeuten können. 🥰
Und dann war M. fertig und bat zu Tisch.
Zuvor hatten sie mich gefragt, ob ich dies oder jedes möge, worauf ich aber gar nicht antworten konnte, da ich keine Ahnung hatte, was es war, also ließen sie es nun darauf ankommen und zeigten sich hocherfreut, als ich sofort auf die Sache einstieg, denn es gab u.a. Cigköfte, veganes türkisches Fingerfood.
Wenn man das Video anklickt, versteht man, warum A. es nicht selber gemacht, sondern gekauft hatte, denn das ist wirklich arbeitsintensiv und außerdem erzählte sie, dass sie den Geschmack bei ihren bisherigen Versuchen noch nie so richtig gut hinbekommen habe.
So sah der Tisch aus:
Der Einfachheit halber hatten sie diesmal die Tischdecke einfach zur Seite geklappt, wieder ein Zeichen mehr, dass ich inzwischen "dazugehöre", und rechts sieht man den geöffneten Cigköfte-Karton.
Nicht im Bild sind die etwa pizzagroßen dünnen und biegsamen Fladen, von denen man sich einen halben noch mal auf die Hälfte legt und mit einem Salatblatt bedeckt, auf das man Cigköfte packt. Ein paar Tropfen Granatapfelsirup (klingt süß, war es aber nicht, sondern erinnerte mich eher an Sojasoße), dann klappt bzw. rollt man das Ganze ein und isst es aus der Hand.
Was soll ich euch sagen?
Das schmeckte mir so gut, dass ich mir drei Ladungen bastelte und sie vollständig verschlang, zusätzlich zu einem der selbstgebackenen Hörnchen und American Coocies - übrigens das gleiche Rezept, nach dem auch meine Schwester sie mir kürzlich mitbrachte, wenn auch A. auf das Vollkornmehl verzichtet.
Davon mag ich wirklich gerne mehr probieren, also so richtig traditionelle türkische Küche, sehr schön würzig und mit gerade der richtigen Schärfe für mich.
Toll war das und als ich irgendwann am nun schon frühen Abend das Haus verließ, ging mir nur noch eins durch den Sinn:
Mein Gott, was war das wieder schön heute ... 🥰
Abgerundet wurde mein Tag durch "Top Dog Germany", das nun wieder einige Freitage lang auf RTL läuft und mir immer wieder angenehme Gänsehaut verursacht, wenn ich sehe, wie gut Mensch und Hund miteinander funktionieren können.
Was will man mehr?
Ein Tag wie aus dem Bilderbuch und heute Morgen begab ich mich gleich an die Suchmaschine und pickte das perfekte Video herau fürs "Trockenschwimmen", das ich M. gleich weiterleitete.
So hat es schon mein Papa einst mit uns gemacht, die Methode ist einfach gut, wenn man die Bewegungen von Armen und Beinen von Anfang an richtig lernen will, und ganz sicher wird das auch bei der kleinen B. klappen. 😊
Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 😀