Donnerstag, 20. April 2023

Surreal, bizarr, ...

 ... das sind die ersten Begriffe, die mir einfallen, wenn ich an den gestrigen Tag denke.

Bevor ich losfuhr in Richtung Krankenhaus, hatte ich mich noch schnell nachrichtenmäßig auf den neuesten Stand gebracht.

Der "Macheten-Mann", der am Vorabend vier Menschen niedergestochen hatte - einer davon schwebt noch immer in Lebensgefahr - befand und befindet sich weiter auf der Flucht, kein gutes Gefühl, denn schon im arg überfüllten Bus sah ich drei Männer, auf die die Beschreibung (ca.30 Jahre alt, 1,80 groß, langer schwarzer Bart) perfekt passte, und im weiteren Verlauf kamen viele weitere hinzu, erst recht im Stadtteil meiner Kindheit und Jugend, den ich dann nach dem Umstieg in die Straßenbahn durchqueren musste.

Auch diese rappelvoll, so gelang mir nur ein ganz kurzer Blick auf das Haus meiner Großtante, in dem ihre Eltern um die vorletzte Jahrhundertwende herum die Schneiderei des Vaters und unten das Süßwarengeschäft der Mutter betrieben.

Meine Mutter hatte es für nen Appel und ein Ei an einen kurdischen Geschäftsmann verkauft, der im Erdgeschoss einen Dönerimbiss einrichtete, sich aber offenbar nicht lange hielt damit, denn nun befindet sich dort ein "Call-Shop".

Dann geschah etwas, das eigentlich nicht passieren darf.

Wir näherten uns einer Haltestelle, die vom Band aber falsch angesagt wurde inkl, der Meldung, dort befände sich der Ausstieg in Fahrrichtung links.

Bis dahin nicht mal ein großes Problem, doch nun öffneten sich wie auf Knopfdruck alle Türen auf dieser Seite, und zwar zu einer Bahn hin, die im gleichen Moment auf dem Nebengleis einfuhr, während der Ausstieg eigentlich rechts gewesen wäre.

Ich selbst stand oben im Gang, doch hinter mir hatte sich ein Halbwüchsiger auf die Stufen gequetscht und als sich nun die Tür hinter ihm so unvermittelt öffnete, wäre er um ein Haar hinausgestüurz, dann vermutlich unter die Gegenbahn geraten und auch an den anderen Türen hörte ich die Leute empört aufschreien.

So etwas darf doch nicht passieren, oder?

Jedenfalls war ich mehr als froh, als ich dem chaotischen Gedränge endlich entfliehen und mir die Maske vom Gesicht reißen konnte, außer mir hatte eh niemand eine getragen, und an der Haltestelle wartete schon A. auf mich, die ich über WhatsApp auf dem Laufenden gehalten hatte.

"Haste Lust auf Frisör?", fragte sie mich, nachdem wir uns erst mal feste gedrückt hatten.

"Ähm, hm, nee, ich schätze, so viel Geld habe ich gar nicht dabei, aber wenn dir danach ist ...?"

Seltsam fand ich das, aber okay, sie hatte so richtig Lust darauf, sich die Spitzen schneiden zu lassen, und nun ging die Suche los.

"Glaubst du wirklich, dass du hier einen Damenfrisör findest?"

Ich bezweifelte das, spielte aber mit, also latschten wir los, sehr weit, immerhin bis fast auf die Höhe, wo wir einst wohnten.

Nix, natürlich nicht, jede Menge Herrenfrisöre, Barbershops, aber für Frauen gibt es keinerlei Angebot.

"Ja, sag mal", fragte A., "was machen denn die muslimischen Frauen, gehen, die gar nicht zum Frisör?"

"Hm, da bin ich auch überfragt, aber wenn man seine Haare eh versteckt, ist ja irgendwie auch keinerlei Frisur nötig, oder?"

Ich weiß es wirklich nicht, aber vermutlich findet so etwas, wenn überhaupt, dann nur hinter hermetisch verschlossenen Türen statt?

Egal, wir wurden nicht fündig, schließlich gab A. auf und wir marschierten den ganzen weiten Weg an der vielbefahrenen Straße entlang zurück.

"Siehste", vermeldete sie stolz, "so was wäre noch letzte Woche gar nicht möglich gewesen, da wäre ich vor Panik verrückt geworden."

Und nun erfuhr ich mehr darüber, was bzw. welche Zustände sie überhaupt ins KH und dort in die psychiatrische Abteilung gebracht hatten. Um eine bipolare Störung handelt es sich bei ihr, die dann mitunter von heftigen Depressionen begleitet wird.

Natürlich ist mir dieser Ausdruck schon begegnet, aber viel wusste ich nicht darüber, mache ich mich nun etwas schlauer dazu und bin schon so weit vorgedrungen, dass sie die Veranlagung dazu vermutlich von ihrem Vater erbte und bereits in der Jugend davon betroffen war.

Auf einmal ergeben manche ihrer Verhaltensweisen, die ich mir damals nicht erklären konnte, einen Sinn, da wird es noch viel Redebedarf geben, denn nachdem sie die Diagnose bereits in Süddeutschland erhielt, nun aber vier Jahre lang komplett Ruhe davor hatte, muss man es natürlich im Auge behalten, falls sich wieder einmal ein solcher Schub ankündigen sollte.

Irgendwann kamen wir an der Klinik an, es ist die, in der ich mit 18 Jahren dank Rheumatischem Fieber ganze 8 Wochen verbringen durfte, und ich staunte nicht schlecht, dass der riesige Park, in dem ich damals so gern lustwandelte, verschwunden und inzwischen komplett zugebaut ist.

In diese neuen Gebäude gingen wir nun hinein, kurz nach oben, wo sie mir ihre Station und ihr Dreibettzimmer zeigte.

Ziemlich trostlos eigentlich, nicht mal einen Fernseher gibt es in den Zimmern, alles sehr kahl und wenig anregend, aber immerhin machten alle Mitarbeiter und auch die Patienten, denen man begegnete, einen wirklich freundlichen Eindruck.

Nachdem ich ihre Zimmergenossin und deren Ehemann noch kennen lernte, verkrümelten wir und auch schon wieder, A. hatte sich nur ihre dicke Jacke holen wollen (ausgestattet ist sie gut, weil sie quasi umme Ecke rum wohnt und sich jederzeit eindecken kann mit dem, was sie braucht), und dann gabs erst mal ein Päuschen im Raucherbereich vor dem KH, wo ich etwas mitbekam, das wirklich bizarr wirkte.

Zwei, drei Meter von unserer Bank entfernt hielt sich eine Patientengruppe auf, zu der sich nun eine junge Frau gesellte.

"Die wissen nicht, ob er Machete noch hat, und haben gesagt, ich soll drinbleiben und mich nicht zeigen besser," sagte sie zu den anderen in etwas holperigem Deutsch, während sie aufgeregt auf ihrem Handy herumhackte.

Jesses!!!

Über örtliche kleinere Nachrichtenkanäle hatte ich die Berichterstattung seit vorgestern Abend aufmerksam verfolgt und dort u.a. gelesen, dass der Messerstecher es ursprünglich wohl nur auf einen der Fitnesser abgesehen hatte und die anderen drei Schwerverletzten mehr oder weniger zufällig zu Opfern wurden.

Handelte es sich also um eine Eifersuchtstat und Mittelpunkt war ausgerechnet diese junge Frau?

So nah dran am Geschehen wollte ich eigentlich gar nicht sein, überlegte kurz, ob ich das soeben Gehörte wohl an die Polizei melden sollte, entschied mich dann aber dagegen, denn vermutlich hatte sie mit "die" ja eben diese gemeint?

Durchaus möglich, dass es sich so verhält, auch wenn man über die größeren Medien ja immer noch nichts über die näheren Umstände erfährt, also lasse ich das jetzt erst mal so auf sich beruhen, zog es dann aber doch vor, dass wir uns von diesem Ort entfernten, was A. aber sowieso vorgehabt hatte.

Und nun wurde es wirklich schön.

Dort, wo einst alles voll war mit Schwerindustrie, mit großen, grauen und stinkenden Werken, befinden sich nun liebevoll angelegte, riesige Grünflächen, die wir jetzt bei strahlendem Sonnenschein durchwanderten.

Der Wind war zwar stellenweise mehr als heftig, aber dann fanden wir ein herrliches und sogar bewirtschaftetes Plätzchen unten am Rhein, wo man mit ganz viel Sand versucht hat Strandatmosphäre zu schaffen:

Die Aufschrift auf dem Schiff "KEEP OUR RIVERS CLEAN" gefiel mir gut und A. genoss die Rhabarberlimonade und ein Stück Kuchen, während ich selbst gar nichts gewollte hatte, was sich später als sehr richtig erweisen sollte.

So saßen wir dann länger als zwei Stunden, genossen das Wetter, das Glitzern des Wassers, hörten die Schiffe tuckern, redeten, lachten, tauschten Erinnerungen aus und wurden wieder ernst.

Nebenher konnten wir beide die Finger nicht von meiner Handtasche lassen, denn was mit der geschah, passte perfekt ins surreale Bild, das mich ja irgendwie schon den ganzen Tag begleitete.

Eine meiner Lieblingstaschen, F. hatte sie mir einst geschenkt, zwar länger her, aber allzu viel hatte ich sie nie benutzt, eben nur für "bessere" Gelegenheiten, noch zum Fastenbrechen hatte ich sie dabeigehabt bei M. und seiner Frau, und an diesem Abend war mir aufgefallen, dass sich an einer Stelle das vermeintliche Leder löste.

Als ich mittags losfuhr, sagte F. noch: "Guck mal, da geht sie an einer weiteren Stelle kaputt", aber ich hatte mir nicht viele Gedanken darüber gemacht, war losgebraust und nun begann sie sich auf einmal nach und nach irgendwie aufzulösen.

Meine Jacke war voll mit hellem Krümelzeugs und wo ich saß oder ging, hinterließ ich Fetzen, die sich nun an fast jeder Stelle zu lösen begannen, so dass wir beide unsere Fummellust beherrschen mussten, wollte ich nicht gleich mit einer komplett "nackten" Tasche dastehen.

Der Rückweg wurde einigermaßen beschwerlich, denn wir mussten sehr weit leicht bergauf laufen und hatten nun den scharfen Wind von vorne, der uns zeitweise kaum noch vorwärtskommen ließ, und am Ende war meine Bahn natürlich weg.

Also nahm ich die nächste und kam damit so dämlich am Umsteigeplatz an, dass ich 20 Minuten auf den nächsten Bus warten musste.

Der dann allerdings komplett ausfiel und sein Nachfolger hatte Verspätung, so dass ich eine geschlagene Stunde dort herumstand, nicht allzuweit entfernt von diesem Fitnessstudio, was sich wieder nicht allzugut anfühlte, zumal auch hier natürlich etliche junge Männer mit langen dunklen Bärten unterwegs waren, aber ich sagte mir dann immer wieder, dass der Täter ja nun wohl kaum ausgerechnet hier und immer noch mit der Waffe in der Hand herumlaufen würde, zumindest hoffte ich das ... 🙄

Abgelenkt wurde ich dann von einem jungen Mann, der mich sehr an M. erinnerte, und sich genauso geduldig wie ich die Beine in den Bauch stand.

Irgendwann kamen wir ins Gespräch, er erzählte, dass er extra früher Feierabend gemacht habe wegen einer Verabredung, die er nun allmählich knicken könne, und dann trösteten wir uns gegenseitig damit, dass wir es ja auch noch viel schlimmer hätten erwischen können, z.B. bei strömendem Regen.

Dann - endlich - kam der Bus, extem überfüllt jetzt natürlich, also hieß es noch einmal stehen, und das im Stau auf der Autobahn, aber um kurz nach sechse war ich dann doch zu Hause und zeigte erst einmal F., was aus seinem einst so schönen Geschenk geworden war, nämlich dies hier:

 





Wie gesagt, als ich startete, war sie bis auf zwei kleine Stellen noch komplett dunkel gewesen. 😂🤣😂

Sonst noch irgendwelche Fragen zu diesem Tag? 🤣

Ich hatte keine mehr, war gerade noch in der Lage, mich selbst und meine beiden Männer mit Futter zu versorgen und ... die Tasche auszuräumen und direkt in den Müll zu werfen, dann verkrümelte ich mich schon um kurz nach achte in mein Bett, war einfach nur noch feddisch. 😁

Gut so, denn heute früh war bei Aldi der Deibel los, aber nun war ich ja wieder fit genug für den Kampf um die Blumen und kam auch rechtzeigig genug heim, um F. auf den Weg zum Doc zu bringen, von dem er erstaunlicherweise blitzeschnelle zurück war, es habe mit dem Laufen besser geklappt als erwartet, sagte er, was mich natürlich sehr erfreute. 😉

Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 🙂


2 Kommentare:

  1. Nein danke, keine weiteren Fragen, liebe Rex-Mama :-)

    Puh, was für ein anstrengender Tag! Schon allein die Fahrerei reicht für die nächsten Wochen, oder?

    Bipolare Störung habe ich zwar schon öfter gehört, aber noch nie nachgelesen, was das wirklich bedeutet.
    Die Klinik selbst war aber nicht verstörend, oder? Die Zeit mit deiner Freundin war sehr schön, denke ich - liest sich jedenfalls so. Und die Tasche, tja, schade drum. Mir kommt das Auflöse-Phänomen irgendwie bekannt vor, komme aber grad nicht drauf, was da bei mir auf der hintersten Festplatte im Hirn gespeichert ist :-)

    Die Tragödie in dem Fitnessstudio bei euch habe ich natürlich in den Nachrichten mitbekommen.
    Das 10-Jährige Mädchen, das in Wunsiedel getötet worden ist, war übrigens eine Schülerin meiner angeheirateten Nichte.
    Was für eine Welt!

    Hab noch einen erholsamen Tag und sei lieb gegrüßt :-)

    AntwortenLöschen
  2. Stimmt, meine Liebe, die Fahrerei war echt heftig, das hat keinen Spaß gemacht.
    Die Klinkik ist ja eine ganz normale, nur eine Abteilung ist eine psychiatrische und da war alles offen, wobei allerdings dort die Besuchszeit dann aber auf zwei Stunden am späten Nachmittag beschränkt ist.
    A. hatte vorher mit denen besprochen, dass ich komme, und als wir hochkamen und ich fragte, ob ich denn trotz des Schildes reindürfte, sagte sie, ja, sie habe ja gefragt, mit Blick auf eine Ärztin, die dort herumturnte.
    Diese nickte, ich sagte grinsend, sie könne sich auch drauf verlassen, dass ich wieder abhauen würde, am Ende lachten wir alle und so gut blieb die Stimmung auch.
    Da war absolut nichts Verstörendes, schätze, die wirklich schweren Fälle sieht man dort auch nicht.

    Eine Schülerin deiner Nichte, seufz, gell, wenn es einem so nahe kommt, dann merkt man auf einmal, wie klein diese Welt doch ist und wie grausam.
    Schlimm, was da immer passiert ... :-(

    Lieben Grüß zurück und mach's dir schön heut, sofern das Wetter mitspielt. Hier regnet es inzwischen ...

    AntwortenLöschen