Freitag, 19. April 2024

Das hab ich auch noch nicht erlebt

Auch gestern fuhren alle Busse, und das sogar einigermaßen pünktlich, toitoitoi, dass es so weitergeht, denn dann ist die Fahrerei wirklich gut zu bewältigen, auch wenn sie natürlich zeitraubend und anstrengend ist.

Irgendwie fühle ich mich grad wie in einem Kokon steckend, die Welt um mich herum brodelt weiter, in den Nachrichten immer neue Horrormeldungen und die Menschen in den Bussen telefonieren, quatschen, lachen - alles ganz normal, nur eben bei mir nicht und ich fühle mich weniger denn je dazugehörig, alles rauscht an mir vorbei.

Im Bus merkte ich dann aber doch, dass etwas falsch lief, und schon brüllte eine Frau von weiter hinten nach vorn zum Fahrer: "Wooo fahren Sie hin?"

Genau, er war nicht in den Busbahnhof eingebogen, sondern einfach geradeaus weitergefahren und schon hatte ich das Wort "Terroristen" im Kopf, denn ich war zwar die ganze Fahrt über völlig in meinen Gedanken gefangen gewesen, hatte aber trotzdem registriert, dass rund um den Fahrer die ganze Zeit recht erregt Arabisch gesprochen wurde.

Entwarnung - er habe sich schlicht verfahren, teilte er der Frau mit, die daraufhin fies zu keifen begann, wo es denn so was gäbe, ein Linienbusfahrer, der sich verfährt.

Und sie hielt sich dran mit der Keiferei, weil der arme Mann ziemlich weit fahren musste, bis er eine Gelegenheit fand, wo er mit dem riesigen Gelenkbus die Richtung wieder ändern konnte, aber irgendwann war es geschafft und ich konnte aussteigen, auch wenn mein Anschlussbus nun natürlich längst weg war.

Trotzdem war ich eine Viertelstunde zu früh im Warteraum vor der Intensivstation, wo ich zunächst ganz alleine herumsaß, bis sich eine Frau zu mir gesellte.

Wie das hier liefe, wollte sie wissen, ob man sich irgendwo anmelden müsste.

"Nein", erkärte ich ihr, "einfach nur warten, um kurz nach drei machen die die Türe auf."

"Diese Warterei, das macht mich noch verrückt", stöhnte sie und sofort fiel ich in ihr Stöhnen ein: "Da sagen sie was, mich macht es auch schon seit Tagen kirre."

Schon waren wir im Gespräch. Ihr Mann, ein Bär von Mann und 58 Jahre alt, wie sie sagte, hatte bei der Arbeit unvermittelt eine Gehirnblutung erlitten und war nun fünf Stunden lang operiert worden.

Wir stellten fest, wie ähnlich unsere Situation war, beide traf es uns so plötzlich und die Angst um den jahrzehntelangen Partner frisst einen einfach auf.

Dann ging die Tür auf, wir schlupften in die gelben Plastikgewänder, wünschten uns alles Gute und jede ging ihres Weges.

Meiner führte mich zu einem deutlich mopperigen F. Nix passte ihm, er war einfach von allem nur noch hochgradig genervt, meiner Meinung nach nicht zuletzt wegen des Staus in seinem Bauch, denn bis jetzt hatte er sich konsequent geweigert, die Bettpfanne zu benutzen.

Klar, noch entwürdigender kann eine Situation kaum sein, aber das bekamen wir später in den Griff und ich hoffe, dass seine Laune heute besser sein wird.

Wieder war es eine andere Ärztin, die Dienst hatte, und das, was sie für den Moment sagte, klang ganz gut, dass die Situation, also die aktuen Folgen des Infektes, sich bessere. Dann aber begann sie Szenarien auszumalen, welche Geräte F. künftig daheim brauchen würde, und empfahl uns, uns Gedanken über Verfügungen zu machen, z.B. in Bezug auf künstliche Beatmung und Luftröhrenschnitte, denn ... die Grunderkrankung limitiere nun einmal.

Peng, das saß und das war gewiss nicht das, was ich gerade hören wollte, also unterbrach ich sie mit dem Hinweis, dass das Leben an sich ja schon stark limitiert sei - in der Hoffnung, dass F. es gar nicht so genau mitbekam, worüber wir da redeten.

Ich halte die Psyche für ungeheuer wichtig, bemühe mich nach Kräften, meine eigene so positiv zu halten, dass ich F. unterstützen und aufbauen kann, statt ihn nach unten zu ziehen, und nun kam dieses junge Ding daher und knallte einem mal eben den denkbar schlechtesten aller Ausgänge unter die Nase.

Das muss ungefragt nicht sein, werte Doktoren!!!

Ich hatte daran noch lange zu knabbern, auch wenn ich mir vor F. nichts anmerken ließ, und war deshalb umso dankbarer, lieber Faradei, als ich abends dann deine Zeilen las. Danke noch mal dafür! 

Schon seit Tagen hat F. Lust auf Bier, halb scherzhaft erwähnte er das, als die Ärztin noch anwesend war, und sofort schreckte sie hoch: "Brauchen Sie das, brauchen sie irgendetwas als Ersatz?"

Nein, beruhigte ich sie, erklärte, dass bei uns an sich überhaupt kein Alkohol mehr getrunken wird, dass die Gelüste einfach eine Reaktion auf die Krankenhauskost seien, und kurz darauf war es dann Zitronensprudel, nach dem ihn dürstete.

Heute werde ich ihm gelben mitnehmen, zumindest den habe ich im Hause und muss nicht morgens extra noch losspringen.

Vermutlich bekäme ich ihn auch in der Cafeteria, aber da hatte ich gestern mal kurz hineingeschaut und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen angesichts der Preise.

Für eine absulut unappetitlich aussehende Brezel wollen die schon zwei Euro haben, alles andere ist noch viel teurer, da nehme ich den Kram doch lieber von daheim mit und lasse mich überraschen, wie es heute aussieht mit meinem lieben Mann.

Als ich mich auf den Heimweg machte, traf ich im Bushäuschen wieder auf die Frau vom Wartezimmer. Auch sie ist stundenlang mit den Öffis unterwegs, um zum KH zu gelangen, ihrem Mann ging es den Umständen entsprechend gut, auch sie sind Hundehalter und da wir bis zum Bahnhof den gleichen Bus benutzten, hatten wir jede Menge zu reden.

Und es war seltsam, wie nahe wir uns waren, obwohl bis vor zwei Stunden noch völlig fremd.

Auch sie empfand diesen Kokon, merkte, dass es in dieser Situation ganz schwierig ist mit dem Kontakt zur Außenwelt, nur uns beide verbanden diese absolut gleichen Empfindungen, wir wussten auch ohne viele Worte genau, wie die andere sich gerade fühlte, wie tief die Erschütterung ist, die so ein plötzliches Ereignis in einem verursacht, wie groß die Angst um den Menschen, mit dem man sein ganzes Erwachsenenleben geteilt hat.

So als solle einem die Hälfte des Herzens herausgerissen werden, das tut weh, ungeheuer weh und man weiß nicht, ob die andere Hälfte allein überhaupt noch schlagen könnte oder will ...

Unterwegs merkte ich übrigens, wie sich mein "Dutt" - den Frisörtermin hatte ich ja grippehalber absagen müssen, also bleibt mir im Moment nur das Hochstecken - aufzulösen begann, denn die Straßen in unserer Stadt sind derart marode, dass man Busfahren hier wohl als Schlaglochtourismus bezeichnen könnte. Es rubbelte und rubbelte und meine Spange begann sich immer mehr zu lösen ...

Scheißegal, ich würde auch mit Strubbelkopf losfahren, Hauptsache, ich kann mein Männle sehen und ihm beistehen ...

Abends war ich hier noch bis elfe zugange, die nächste Maschine wollte gewaschen werden, außerdem hatte sich ein Haufen Umfragen angesammelt und nun geschah gerade etwas, das mir zum ersten Mal seit Sonntagabend tatsächlich die Tränen laufen ließ.

Schon immer war der Infofluss mit F. über WhatsApp etwas zäh, wenn ich mal abwesend war, an sich kenne ich das also, aber im Moment zehrt es natürlich an meinen Nerven, wenn Reaktionen von ihm so lange auf sich warten lassen, weil ich ja unter ständiger Höchstspannung stehe.

Heute früh hatte er sich um halb fünf mal kurz gemeldet, dann Schweigen, keinerlei Reaktionen mehr, bis er mir dann um kurz vor neun schrieb, dass er gerade gefrühstückt habe.

Immer wenn er etwas schreiben wolle, käme schon wieder jemand daher und fummele an ihm herum, beklagte er sich und ich beruhigte ihn, schrieb, dass er sich keinen Stress machen solle, schließlich würde ich in genau fünf Stunden ja schon wieder im Warteraum sitzen und warten, dass man mich zu ihm ließe.

"Okay, meine große Liebe ...", antwortete er, versah es mit Herzchen und haute mich damit fast aus den Pantinen, denn soo hat er das noch nie gesagt und traf damit genau das, was diese Frau und mich verbunden hatte.

Wir wir können offenbar auch diese beiden zanken wie die Kesselflicker, d.h. es geht äußerst lebendig zu, aber gleichzeitig ist da dieses tiefe Band, das sich über die Jahrzehnte bildet, in denen man wirklich alles miteinander teilte, im Guten wie im Schlechten, und das von außen nur ganz schwer nachvollziehbar sein dürfte, wenn man nicht selbst Ähnliches erlebt hat.

Ich wünsche dieser Frau, dass ihr Mann heute vielleicht schon auf der Normalstation ist, und wer weiß, vielleicht laufen wir uns ja trotzdem an der Haltestelle noch einmal über den Weg?

Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 



 

4 Kommentare:

  1. Liebe, ich sag es aus mehrfacher Erfahrung: Es ist wie ein Weg durch einen Tunnel. Hinterher war da immer wieder Licht, trotz dem dass es nicht immer erhofft ausging. Um im Bild zu bleiben - im Tunnel nie umkehren! Sind es nicht Momente des Glücks, wenn das mit der Stuhlpfanne gemeinsam gelingen konnte. Erlaubte mir zu schmunzeln.
    Also geh voran, auch du selber bist Licht im Tunnel.

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    1. Da schmunzele ich mit, bekommt doch sogar ein Tunnel damit eine neue Bedeutung. ;-))

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  2. Hallo, Liebe "Rex-Mama!"

    Das feste Band zwischen "F" und dir ist zu spüren, seit ich dich lese.

    Das "F" nicht unbedingt erpicht darauf, ist die Bettpfanne zu benutzen kann ich verstehen, auch ich hasse solche Momente, wobei den einzigen KH Aufenthalt den ich hatte, schon viele, viele Jahre zurückliegt.

    Ansonsten bin ich schwer beeindruckt, wie du das alles meisterst.

    Bleibt zu hoffen, dass du nicht vor Erschöpfung selbst umfällst.

    Dass man nicht ein wenig mit Herz versucht Ergebnisse von Ärzteseite zu vermitteln finde ich schade. Wobei es vielleicht hier wirklich am Alter lag, hoffen wir, dass "F" vielleicht doch wie bisher leben kann, denn Sauerstoff und Co. wirklich nur - wenn überhaupt - im Notfall benötigt.

    In so einem Krankenhaus, da hat man ja auch Zeit zum Nachdenken und vieles, das vielleicht vorher eher klein war, wird dann noch wichtiger und gewinnt an Wert.

    Bin sehr gespannt, ob du nochmals auf die Frau triffst, die ein ähnliches Schicksal teilt.

    Zumindest "F" wird sich an deinen derzeit langen Haaren wohl sehr erfreuen :)




    Liebe - weiterhin nur das aller, Allerbeste für euch - Grüße
    Vom lifeminder

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    1. Dieser Hoffnung schließe ich mich an, lieber lifeminder, denn das alles zehrt ganz schön an mir, aber zum Glück hat immerhin das Penicillin angeschlagen und ansonsten habe ich grad immer Traubenzückerchen zur Hand.
      Stimmt, F. hat Freude daran, wenn ich meine Haare notgedrungen hochstecken muss - mir selbst ist das Gefummele im Moment allerdings mehr als lästig.
      Nützt aber nix, denn Zeit für Frisör habe ich eh nicht, also wird weitergefummelt. ;-)

      Liebe Danke-Grüße zurück! :-)

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