Sonntag, 17. September 2023

Ein schwarzer Tag

 Dabei hatte er ja durchaus gut angefangen mit dem wirklich gelungenen Apfelstrudel, der einfach lecker ist.

Außerdem hatte ich mein Aufsätzlein "Aus dem Leben einer Schülerin" abgeschlossen und F. musste als Versuchsobjekt herhalten, als ich ihm die 10,5 Seiten vorlas.

Es hätte weitaus länger werden können, doch ich wollte dem Leser nicht zu viel zumuten und hatte das Gefühl, dass F. es in diesem noch einigermaßen überschaubaren Rahmen genoss.

Nun wurde es höchste Zeit, ihm sein Mittagessen zu servieren, hatte er sich doch schon eine Weile auf "sein Hühnersüpple mit ganz viel Reis" gefreut.

Am Vortag hatte ich sie frisch gekocht und den großen Topf extra im Wasserbad abgekühlt, damit sie so schnell wie möglich in den Kühlschrank in der Speisekammer konnte, den ich nun öffnete, um den Pott hoch in die Küche zu schleppen.

Deckel auf, hm, sah die Oberfläche nicht irgendwie seltsam aus?

Geschnuppert, nee, sie roch einwandfrei, also bidete ich mir das vielleicht nur ein?

Teller zurechtgebastelt, zu F. getragen und mich zu ihm gesetzt, hatte noch dringliche Arbeiten am PC zu erledigen, womit ich nebenher begann.

Doch nach dem dritten Bissen bzw. Löffel begann F. komische Schmatzgeräusche zu machen - er testete am Geschmack herum und sofort wurde ich hellhörig:

"Was ist, stimmt was mit der Suppe nicht?"

"I woiß au nedde, irgendwie schmeckt sie seltsam ..."

Oha ...

"Hör sofort auf zu essen, dann hat sie einen Schlag weg, wie auch immer das passieren konnte."

Letzte Nacht musste ich wegen Gewittern schon wieder um kurz nach eins ins Wohnzimmer wechseln, um Rex zu beschützen - keine Ahnung, ob das da schon in der Luft lag oder ob die halbe Paprikaschote schuld war, die ich kurz vor Ende der Garzeit noch mit hinengeschnibbelt hatte.

Wie doof von mir - an sich käme ich nie auf die Idee, Paprika in eine klare Suppe zu geben, aber sie lag schon recht halblebig im Gemüsefach herum und ich wollte sie loswerden, also hinein damit.

Ob da ein Zusammenhang bestehen könnte, zumal ich ihr vermutlich auch nicht mehr genug Garzeit gewährte, keine Ahnung, Ende vom Lied war jedenfalls, dass ich das ganze schöne Fleisch, den Spargel und all das viele Suppengemüse auf alte Zeitungen herausschöpfte - denn ins Klo darf man so etwas ja nicht schütten. Die verbliebene Brühe musste wohl oder übel durch den Abfluss, gefolgt von zwei Litern kochendem Wasser.

Grauslich, ich hasse es, Lebensmittel zu vernichten, aber anders ging es ja nicht, zumal auch die drei Happen ausreichten, dass F. nun heftigen Durchfall hat. 😢

Und was sollte ich mit dem immer noch hungrigen Mann machen?

Fertig gekochter Reis stand noch zur Genüge herum, also fischte ich ein Pächcken Fleischkäs aus dem Gefrierschrank, würfelte ihn mit roher Kraft, weil ja noch steinhart gefroren, dann briet ich ihn mit Zwiebel, Knobi und etwas Ingwer an, gab den Reis hinzu, würzte mit u.a. reichlich Curry und richtete noch schnell eine Schüssel Eisbergsalat her.

Hatte ich gehofft, damit den schlechten Teil des Tages nun hinter mir zu haben, wurde ich nur eine Stunde später belehrt, dass es noch viel, viel schlimmer geht.

Kurz mal bei Facebook vorbeischauen, so mein Plan, bevor ich mich wieder ans Arbeiten machen wollte.

Dort bin ich lose verbunden mit so einigen aus meiner an sich ja riesigen Verwandtschaft, zu der meine Mutter aber leider jeden Kontakt beizeiten verhindert hatte, weil sie sie alle als "ihre Feinde" betrachtete.

Als Kinder waren wir noch ganz normal mit unseren vielen Cousins und Cousinen aufgewachsen, trafen sie ständig im Schwimmclub und bisweilen auch im Sommerurlaub an der Ostsee, die Trennung durch Muttern erfolgte erst später.

Für Papa eine schwierige Situation, hatte er selbst doch gar keine Probleme mit seinen Geschwistern, und für mich, na ja, ich war zu dieser Zeit frisch nach Stuttgart ausgewandert, mir fehlte also gar nicht wirklich etwas.

Was sich dann veränderte, als wir 1994 nach hier zogen, da ging mir die ja durchaus vorhandene, aber irgendwie auch unerreichbare Familie schon ab und um meine Mutter nicht vor den Kopf zu stoßen, wählte ich eine Art Mittelweg, d.h, ich war es, die Papa - manchmal auch mit F. im Schlepptau, wenn seine Arbeit es zuließ - zu den immer häufiger stattfindenden Beerdigungen begleitete, immerhin dort traf ich also mal auf Familienmitglieder und mit einigen von ihnen verband man sich dann auf FB.

Was sich gar nicht uninteressant gestaltete, denn der eine sieht die Kontakte des anderen und so bekam ich bald auch Freundschaftsanfragen von den Kindern einiger Cousins und Cousinen, auch wenn ich ihnen leibhaftig noch nie begegnet bin.

Wie gesagt alles sehr locker und oberflächlich, nur zu W., dem älteren Sohn des Zwillingsbruders, intensivierte sich das etwas, wir schrieben uns hin und wieder auch über WhatsApp, zumal ich dann auch begann, ab und zu mal mit seiner Mutter, also meiner Tante, zu telefonieren.

Die Zwillinge hatten sich nicht nur wie zwei Eier geglichen, sondern auch sonst ähnliche Eckdaten. Beide heirateten, bekamen erst ein Mädchen, dann einen Jungen und sehr viel später noch ein Nesthäkchen.

Und wir vier, also die vier "Großen", waren wirklich sehr eng miteinander aufgewachsen in den ersten Jahren, denn da war ja nicht nur der Schwimmclub, der uns alle verband, sondern auch die Liebe zur Archäologie, die beide Zwillinge teilten und für die sie später gemeinsam den Rheinlandtaler verliehen bekamen.

Der kleine W. war der jüngste von uns vieren, wohl drei oder vier Jahre jünger als ich, und ich weiß es noch sehr gut, wie meine Cousine mir das neue Baby vorstellte, indem sie es kurzerhand an den Beinen aus dem Stubenwagen nahm, hochhielt und mir kopfüber präsentierte. 😂

W. rächte sich dafür, indem er ein richtiger "Rotzbub" wurde, immer frech, immer zu wilden Späßen aufgelegt und besonders meinen Bruder verführte er zu allerhand Unsinn.

Wobei ich ehrlich gesagt gar nicht so sicher bin, wer von beiden der größere Verführer war.

Einmal waren sie im wilden Teil des Schwimmclubs auf einen "Berg" geklettert, um dort heimlich mit Feuer zu spielen.

Die brennenden Streichhölzer schnippten sie über eine hohe Mauer, auf deren Rückseite aber dummerweise eine Frau auf einer Bank saß, deren Kleid dann ein unschönes Loch hatte ... usw.

Mit seinem leuchtend hellblonden Haar erinnert W. mich auf alten Fotos an Michel von Lönneberga und ganz ähnlich wie dieser verhielt er sich auch.

Als er erfuhr, dass die alte Tante Anna, die an der Ostsee immer so leckeren Apfelkuchen gebacken hatte, verstorben war, fragte er ganz aufgeregt: 

"Boah, wer hat die denn erschossen???", und so war in seiner Nähe immer für reichlich Umtrieb gesorgt.

Durch Stuttgart und nicht zuletzt Muttern hatten wir uns aus den Augen verloren, nur über zehn Ecken bekam ich mit, dass er heiratete, Kinder bekam, sich wieder scheiden ließ, längst neu liiert war und nachdem wir nun endlich wieder in Kontakt standen, war der Plan, dass er uns demnächst mal mit seiner neuen Lebensgefährtin besuchen würde, zumal deren Eltern eh bei uns im Stadtteil wohnen.

Wie das so ist mit Plänen, man schiebt sie vor sich her - dann erfuhr ich von meiner Tante, dass bei W. Krebs festgestellt wurde, die Prognose aber wohl gut sei.

Nein, per Chat wollte ich ihn nicht darauf ansprechen, war unsicher, ob und inwieweit ihm das recht sein würde, also vertagte ich ein mögliches Gespräch darüber auf unser Treffen, bekam ja bei FB mit, wie er mit seinem Sohnemann zum Fußball ging oder wie er Bilder vom Urlaub veröffentlichte - also ging es ihm ja offenbar ganz gut und es gab keinen Grund zur Eile.

Auch mein Esszimmer spielte eine kleine Rolle dabei, denn ich wollte es ganz gern in Ordnung wissen, bevor ich jemanden hineinbitte, den ich seit Jahrzehnten nimmer gesehen habe.

Welch blödes Rumgeeiere, was für eine dumme, oberflächliche Scheiße!

Wie konnte ich dämliche Idiotin etwas derart Unwichtiges wie F.s Sammelsurium nach oben auf die Prioritätenliste setzen?

Das wurde mir mit einem Schlag in die Magengrube klar, als ich gestern im Newsfeed W.s Profil angezeigt bekam.

Sein Sohn hatte ein Foto von sich und W. hineingesetzt mit der Beschriftung, wie der Vater, so der Sohn - für immer würde das so in seinem Herzen bleiben.

W., mein kleiner rotzfrecher Cousin, ist gestorben, einfach so, nicht einmal die 60 hat er erreichen dürfen und keinen Tag seiner Rente genießen, auf die er sich doch so gefreut hatte.

Zutiefst erschüttert hat mich das, tut es noch immer und dann setzte natürlich die große Unsicherheit ein, die mich in solchen Fällen immer überkommt.

Wie macht man es richtig?

Die Hinterbliebenen anrufen?

Man weiß es nicht - freuen sich sich womöglich über ein liebes Wort oder wollen sie erst einmal mit ihrer frischen Trauer alleine bleiben?

Ich postete zunächst eine allgemeine Beileidsbekundung, schloss mich damit den vielen anderen an, die dort schon zu sehen waren, fügte ein sehr nettes Kinderfoto von W. hinzu und schrieb, dass ich ihn für immer so in Erinnerung behalten würde

Dann kam aber die Frage nach der Beerdigung, also fasste ich mir ein Herz und schrieb den Sohn an, den ich ja noch überhaupt nicht kenne und der vermutlich um die 30 sein dürfte.

Ein wirklich netter, kurzer Austausch und natürlich erkundigte ich mich auch nach seiner Oma, also meiner Tante, denn für sie muss es ja das Schlimmste sein, was einer Mutter passieren kann, mit um die 90 noch das eigene Kind zu verlieren, zumal W. auch noch die Einliegerwohnung bei ihr im Haus bezogen hatte und ihr eine große Stütze war.

Gar nicht gut ginge es ihr, berichtete der junge M., aber sie wolle zur Beisetzung am Freitag kommen und vielleicht sollte ich sie einfach mal anrufen?

Vor Letzterem scheute ich mich, schrieb ihr stattdessen eine WhatsApp-Nachricht, kondolierte ihr, nahm sie virtuell in den Arm und ließ ihr selber die Option offen, wenn ihr nach Reden wäre, gern jederzeit.

Ich hoffe, dass ich es so richtig gemacht habe, dann informierte ich erst mal meine Geschwister und die Cousinen in Südafrika und im Rheinland.

Entsetzlich alles, einfach nur entsetzlich, denn noch vor einigen Tagen hatte W. in FB ganz fröhlich gewirkt.

Von unserem Teil der Familie werde ich - mal wieder - die einzige sein, die zur Beerdigung geht, und leider muss ich es auch ohne F. tun, dem die Luft fehlt, um das durchstehen zu können.

Nach Klamotten habe ich bereits geschaut, sogar die Schuhe geputzt, aber ein großes Problem wird das Hinkommen sein, denn zwar wäre das mit dem Bus grundsätzlich möglich, nur, was mache ich, wenn auch diese Linie ausfällt?

Nach meinen eigenen schlechten Erfahrungen mit den hiesigen Öffis habe ich mich gestern noch ein wenig dazu umgesehen, ausgerechnet diese Linie fällt offenbar gern gleich mehrmals hintereinander aus, also könnte es vielleicht besser sein, wenn F. mich hinfährt, aber nur absetzt und dann nach Hause zurückkehrt.

Was für unbeschreibliche Kontraste mich doch damit in der kommenden Woche erwarten:

Am Dienstag Treffen mit A., ab 14 Uhr Gruppeninterview im Internet, am Freitag die Beisetzung und am Samstag das Schulfest.

Dazwischen muss ich Einkaufen, Kochen und alles andere packen und denke mal, ich werde ziemlich froh sein, wenn der nächste Sonntag gekommen ist.


Habt einen schönen Tag und denkt bitte immer daran: Carpe diem - nutze den Tag, denn du weißt nie, wie viele davon es noch geben wird ...

 


4 Kommentare:

  1. Liebe, gute Gedanken habe ich dir gewünscht; ich denke, gerade an solch "schwarzen Tagen" sind gute Gedanken unabdingbar. Du gibst der Depression keine Chance mit deiner phantastischen emotionalen Intelligenz.
    Vergiss nicht, dich zu belohnen!

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  2. Ach, ich selbst "belohne" mich eigentlich schon reichlich, wenn ich das Pensum, das ich mir vorgenommen habe, schaffte, gerne auch mal zwischendurch für Etappensiege, sei es nun mit einem Päuschen in meiner Raucherecke, in dem dann Fotos vom Guschtl entstehen, oder indem ich mir etwas besonders Leckeres zum Frühstück um 17 Uhr serviere, gerne auch mit einem Eis vor dem Schlafengehen oder einfach mit einer Runde Mah Jong, um den Kopf freizukriegen.
    Aber viel schöner sind doch die "kleinen Dinge", die unvermittelt von außen kommen - eine soeben erblühte Blume, ein Rex, der sich ganz vertrauensvoll und anschmiegsam zeigt, eine aufmerksame Geste von F., ein kurzes Pläuschchen in einem Laden, in dem man gegenseitige Sympathie verspürt, ein Lachen mit sogar wildfremden Menschen, überhaupt das Lachen, was ich ja ungeheuer viel tue, und dann natürlich auch solch nette Worte, wie du sie mir gerade schriebst.
    Lauter wunderschöne Dinge, die das Leben lebenswert machen, wenn man sie nur sehen will, deshalb von Herzen danke für deine Sätze, überhaupt für deine Kommentare, die mir oft so einiges geben und auch in Bezug auf Lektüre sehr anregend sein können. 😉

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  3. Hallo, Liebe "Rex-Mama!"

    Mein Beileid zum Tot deines Cousins. - Denn du lesbar sehr gemocht hast. Mit unter 60, das ist doppelt bitter und tut beim Lesen weh.

    Vielleicht blüht ja etwas der Kontakt zu dieser Seite der Familie auf. Ich würde mich für dich freuen.

    Carpe diem klappt nicht immer. Manchmal frißt eben der Alltag mit an einem. - Vielleicht fehlt mir aber auch noch die Erfahrung, jeden Tag völlig gelassen anzugehen und bestmöglich zu nutzen, auch wenn ich mir viel Mühe gebe?

    Da haste aber echt nun nächste Woche zu tun, pass auf, dass du dich selbst nicht übernimmst. Wie gehts dem Füßchen?




    Liebe - warum heißt es eigentlich Terminkalender und Verpassungschutz? - Grüße
    Vom lifeminder

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  4. Danke dir, lieber lifeminder, und ja, du hast recht, ich mochte ihn schon sehr, kannte ihn ja seit seiner Geburt, als Kinder erlebten wir viel miteinander und so, wie ich ihn in den letzten Jahren wieder kennen lernte, war er mir sehr sympathisch und wir hatten in vielem ganz ähnliche Ansichten.

    Ich glaube, "carpe diem" will gar nicht besagen, dass man aus jedem Tag das Bestmögliche herausholen muss, sondern eher, dass man ihn bewusst wahrnimmt und genießt.
    Die Übersetzung, die sich eingebürgert hat mit "nutze den Tag" ist etwas wackelig, müsste eher heißen "pflücke den Tag", und der Dichter Horaz, von dem er stammt, meinte damit wohl das, was ich oben sagte - genieße ihn, denn das Leben ist leider begrenzt.
    Will sagen, auch eine Rose, die nicht ganz makellos ist, duftet, wenn man nur nahe genug herangeht mit der Nase. ;-)

    Liebe Der-Verpassungsschutz-gefällt-mir-Grüße zurück! :-)

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