Montag, 5. August 2024

Mund halten, aushalten, durchhalten

 Gestern Abend rief mich meine Tante an und damit schloss sich ein kleiner Kreis zu dem Gespräch, dass ich letzte Woche mit einer anderen Tante führte.

Die beiden waren Schwägerinnen und kennen gelernt hatten sie sich in den Fünfzigerjahren auf Gut Bissenmoor, das damals den Eltern von Karl Lagerfeld gehörte.

Tante Nr.1 war die jüngere, heute 81-jährigen Schwester meiner Mutter und Tante Nr. 2 (inzwischen 86) bewohnte auf dem Gut ein Zimmer (L.s Mutter hatte den Erzählungen zufolge ständig Geldprobleme, da sie sich von meinem späteren Stiefopa allzu gerne ins Spielcasino fahren ließ, also musste sie wohl Räume untervermieten) und lernte dort den Bruder von Mutter und Tante kennen, den sie dann auch heiratete.

"Die arme H. tat mir unendlich leid damals", hatte Tante Nr. 2 gesagt, "sie hatte eine schreckliche Kindheit", damit hatte sie den Nagel mehr als auf den Kopf getroffen und genau darauf kam ich mit Tante Nr. 1 gestern zu sprechen.

So leicht ist es, sie dafür zu verurteilen, dass sie mit 27 Jahren alle Brücken hinter sich abbrach und sich für ein Leben als Prostituierte entschied, doch angebracht ist das nicht, wenn man ihre Geschichte kennt.

Für den Fall, dass meine Nichten das hier eines Tages vielleicht lesen sollten - was ich mir sehr wünsche, damit nicht ganz in Vergessenheit gerät, was einst geschah, und was ihnen auch helfen wird, sich das manchmal nicht ganz einfache Wesen ihres Vaters zu erklären -, hole ich noch einmal kurz aus.

Von diesem Mann ging die extrem schlechte Laune aus, die bei uns von Generation zu Generation weitergegeben wurde und wegen der meine Urgroßmutter nach dem Motto der Überschrift lebte:


Vom kleinen Gerolzhofen in Franken aus hatte er sich aufgemacht die Welt zu erobern und absolvierte ingesamt vier Ausbildungen im Bereich Damenschneiderei, unter anderem eine zum Kürschner in Kanada.

Dann mietete er sich in Hamburg in den Collonaden ein, die noch heute als Prachtboulevard bezeichnet werden:


"Ladies-Tailor" nannte er sich, das Geschäft brummte wie verrückt, sogar von Übersee kamen die Reichen und Schönen dieser Welt, um sich einzukleiden, und dementsprechend wuchsen meine Oma und ihre ältere Schwester in gehörigem Luxus auf:


Dann, mit einem Schlag, ging er bankrott und ich weiß gar nicht, woran es lag, ob es die Inflation war, der Börsencrash?

Auf jeden Fall hatte er sich gehörig verspekuliert und zog sich als Privatier mit seiner Familie verbittert in seine fränkische Heimat zurück.

Die Töchter genossen eine für die damalige Zeit hervorragende Schulbildung und sollten dann Bälle besuchen, gesellschaftliche Anlässe, um adäquate Partner zu finden, was bei der einen gelang, bei Oma aber nicht, der war das alles viel zu provinziell, zu spießig, sie zog lieber ihr eigenes Ding durch.

"Die war dauergeil und mannstoll", drückte meine Tante es gestern ganz profan aus und auch wenn Oma das sicher empört und errötend zurückgewiesen hätte, so verkehrt lag sie damit wohl nicht, denn ich habe noch den Briefwechsel, der stattfand, nachdem sie ihren letzten Lebensgefährten über eine Anzeige aufgetan hatte.

Sie lege trotz ihres Alters großen Wert auf ein erfülltes Sexualleben, hatte sie dem alten Herrn geschrieben und sich erkundigt, wie das denn bei ihm so aussähe ... 😁

Zwei uneheliche Kinder bekam sie von verschiedenen Männern, schaffte es aber, finanziell für sie zu sorgen, indem sie in Würzburg lebte, in einem Büro arbeitete und die beiden die meiste Zeit in einer freikirchlichen Pfarrersfamilie unterbrachte.

Dann wurde sie zum dritten Mal schwanger, jetzt mit Tante Nr.1, wusste genau, dass ihr griesgrämiger Vater das nicht mehr hinnehmen würde, schaffte es wohl auch finanziell nicht mehr, also verheimlichte sie ihre Schwangerschaft, bekam 1943 das Kind heimlich in Mittenwald und gab es hinterher in einem Kinderheim ab, wo es die ersten sechs Jahre seines Lebens verbringen musste.

Am 16.März 1945 wurde Würzburg zerbombt, Oma war mit den beiden anderen Kindern gerade in Gerolzhofen bei den Eltern, aber ihre Wohnung existierte danach nicht mehr und die Hausleute fand man später wohl verkohlt im Keller sitzend.

Purer Zufall, dass es meiner Mutter nicht ebenso ergangen war, und obwohl sie erst vier Jahre alt war, hat sie diese Nacht nie vergessen, erzählte später oft, wie man von Gerolzhofen aus die Feuersbrunst am Himmel mitbekam ... 

Von da an lebte Oma mit den beiden Großen bei den Eltern und Kind Nr. 3 wäre weiter verschwiegen worden, hätte sie nicht zu einem ihrer seltenen Besuche im Heim den Sohnemann mitgenommen.

Er verplapperte sich hinterher bei der Pflegefamilie, die dann dafür sorgte, dass meine Tante endlich nach Hause geholt wurde.

Wie schlimm muss das für sie gewesen sein?

Da kommt man mit 6 Jahren zu einer Familie, die man nicht kennt, und zu einer Mutter, die nicht in der Lage war, auch nur das kleinste bisschen Wärme auszustrahlen.

Einzig durch ihre Oma, also meine Urgroßmutter, bekam sie etwas Liebe, erzählte sie gestern, doch als diese dann starb, war es vorbei damit, denn Gerolzhofen war meiner Oma nach wie vor zu spießig. Der Sohn war inzwischen in der Lehre, doch mit den beiden Töchtern machte sie sich auf in die große, weite Welt und landete so mit ihnen als Haushälterin auf besagtem Gut Bissenmoor, wo mein Onkel bei einem seiner Besuche dann Tante Nr. 2 kennen lernte.

Dreimal musste Tante H. im achten Schuljahr die Schule wechseln, danach war Schluss mit Lernen, nun sollte sie Geld verdienen und es gefälligst zu Hause abliefern, während sie nachts wegen des gemeinsamen Schlafzimmers mitbekam, wie Oma sich mit dem Chauffeur und Gärtner vergnügte, der später mein Stiefopa werden sollte.

"Diese ständige schlechte Laune", sagte sie mit deutlichem Gruseln in der Stimme, "die muss sie so von ihrem Vater übernommen haben", und ich erzänzte, "ja, das zieht sich immer weiter, deine Schwester hat sie von eurer Mutter übernommen und uns damit gequält."

Und eine Quälerei war es wirklich, da waren wir uns einig, ständig bekamen wir von unseren Müttern eingetrichtert, dass wir nicht mehr wert waren als der Dreck unter den Fingernägeln, hässlich waren wir, dumm und eben zu nichts zu gebrauchen.

Ständig fühlte man sich schuldig am vermeintlichen Leid der Mutter, dieses Gefühl verstand die eine wie die andere einem zu vermitteln, wir hatten zu parieren, zu funktionieren und gar kein Recht auf eigene Bedürfnisse.

Wie soll ein Kind da auch nur das geringste Selbstbewusstsein entwickeln können?

Wir hatten es in unserer Jugend beide nicht, waren ja systematisch kleingehalten, im Grunde zerstört worden und dass es bei mir einen besseren Ausgang nahm als bei mir, ist dem Umstand zu verdanken, dass ich ja auch noch einen Vater hatte (sie selbst hat nie erfahren, wer ihrer war), der dafür sorgte, dass ich zumindest eine vernünftige Schulbildung erhielt, auch wenn es danach nicht so weiterging, wie es eigentlich hätte sein sollen.

Mein ganzes Leben habe ich darüber nachgedacht, was damals geschah, warum die Dinge so liefen, und brachte nun das Thema Hochbegabung ins Gespräch ein, denn meiner Meinung nach zieht sie auch diese wie die schlechte Laune durch die Familiengeschichte.

Ca. 2 % der Menschheit sind davon betroffen, für die einen kann es Segen, für viele aber auch Fluch sein, zumal wenn man gar nicht weiß, was mit einem los ist, warum man so "anders" ist.

Zu Omas Zeiten natürlich undenkbar, sie hatte sich gefälligst ins Raster einzufügen, höhere Bildung für ein Mädchen - schlicht ein Tabu!

Daher diese Unzufriedenheit, die sich ja auch bei meiner Mutter wiederfand.

Zwei Schuljahre hatte sie übersprungen, galt als Mathegenie und wurde von den Lehrern herangezogen, den Unterricht zu übernehmen, wenn diese selbst anderweitig beschäftigt waren.

Selbst Carl Zuckmayer, der ein Freund ihrer Deutschlehrerin war, setzte sich dafür ein, dass Oma ihr den Besuch des Gymnasiums gestatten sollte, umsonst, sie tat es nicht, Muttern musste sich mit der Mittleren Reife begnügen und sollte dann ebenfalls so schnell wie möglich Geld verdienen.

Unter anderem als Saisonkraft an der Ostsee, wo sie dann die Familie meines Vaters kennen lernte.

Opa bot ihr an, mitzukommen und bei ihm eine Ausbildung als Sprechstundenhilfe zu beginnen, was sie mit großer Freude tat, wohl in der Hoffnung, anschließend doch noch Abitur machen und Medizin studieren zu können, doch dann kam ich ihr dazwischen, denn in Punkto Männer stand sie ihrer Mutter in nichts nach und hatte sich mit meinem Vater eingelassen.

Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie mich abgetrieben, das erzählte mir meine Tante gestern noch einmal, doch da war Oma vor, die darauf bestand, dass das Kind käme und ordnungsgemäß geheiratet werden müsste.

Auch diesen Briefwechsel habe ich noch, nämlich die Verhandlungen zwischen Oma und Opa väterlicherseits.

Tja, anderthalb Jahre später kam gleich noch das nächste Kind, doch nachdem Papa dann endlich sein Studium abgeschlossen hatte, meldete Muttern sich zu einem Kurs an, der sie recht schnell zum Abitur führen sollte, wäre ... sie dann nicht noch einmal schwanger geworden, und das war's dann.

Ich denke, das Gefühl, sich "weit unter Wert verkauft" zu haben, hat sie ihr ganzes Leben nie verlassen, doch statt das zu reflektieren und einzuordnen, ließ sie die dauerhafte Unzufriedenheit, die ständige schlechte Laune an ihrem Umfeld aus und landete immer tiefer im Alkohol, der betäubte, aber natürlich auch nicht befriedigte und sie schließlich das Leben kostete.

Unfassbar, wie da vieles 1:1 weitergegeben wurde. Tante hatte sich als Kind mal gewagt, bei einem Besuch ein Stück Schokolade anzunehmen, bei mir war es ein Apfel, und beide erlebten wir unser blaues Wunder deswegen nach dem Motto "Die bieten dir das nur aus Höflichkeit an, erwarten aber, dass du ablehnst, Wie konntest du nur ...?!?!?"

Zur Strafe wegen irgendwelcher vermeintlicher Vergehen "ab, ohne Essen ins Bett", das erlebten wir beide unzählige Male und so weiter und so fort ...

Sie bezeichnet sich selbst als beziehungsunfähig, hat ihr ganzes Leben alleine verbracht und wie sie hat auch mein Onkel vor vielen Jahrzehnten den Kontakt zur Mutter, also zu meiner Oma, abgebrochen.

Wie er war, weiß ich nicht, Muttern hatte ja jeden Kontakt mit der Familie unterbunden, aber auffällig ist es schon, dass sich auch in dieser Familie drei von vier Kindern von ihren Eltern lossagten, womöglich hat also auch er die unglücksselige Kette fortgesetzt?

Froh bin ich allerdings, dass ich selber daraus ausbrach, denn vor sehr langer Zeit, F. und ich lebten noch in Stuttgart, munkelte man, die Tante sei wieder aufgetaucht, habe sich bei der ehemaligen Pflegefamilie gemeldet.

Internet gab es noch nicht, trotzdem gelang es mir mit etwas Mühe, ihre Telefonnummer herauszufinden, irgendwann fasste ich mir ein Herz und rief sie einfach an. Zwar hatte ich sie zuletzt mit 9 Jahren gesehen, aber nie vergessen, und das sollte sich als gut und richtig erweisen, denn seitdem stehen wir in ganz lieber Verbindung und ich kann mich glücklich schätzen, dass F. absolut frei von Vorurteilen ist und ihr trotz ihres Berufes eine Chance gab.

"Wenn sie die Nutte net raushängt, soll mir des egal soi", hatte er damals zu mir gesagt und sie mitsamt ihrem frechen Hund herzlich in unserer kleinen Wohnung willkommen geheißen.

Seitdem sind wir die einzige Familie, die sie hat, denn meine Mutter war natürlich nicht bereit, ihr das Verschwinden zu verzeihen, erst recht nicht ihre berufliche Tätigkeit und mein Bruder, der sie als Kind ebenso liebte wie ich, traf sie bei mir zwar wieder, hat aber keinerlei Interesse an ihr, genauso wenig wie meine Schwester.

 So kann es laufen im Leben und nun muss ich den Großputz im Bad fortsetzen, für den ich das Schreiben schon x-mal unterbrach.

Diese Woche ist ausnahmsweise mal terminfrei, also habe ich gleich drei Tage von ihr fürs Bad eingeplant, denn bis ich mit allen Schränken und vor allem auch den Kacheln, die vom Boden bis zur Decke reichen, durch bin, wird es sich hinziehen ... 🙄

Morgen gibt es dann Neues vom Guschtl, der mir gestern zeigte, dass auch späte Vögel noch Würmer fangen können. 😅

 

Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund! 😉

 

 PS: Nun hätte ich fast den Nudelsalat vergessen, der wirklich lecker wurde in der fettarmen Variante mit Magerjoghurt, gebratenem Hüherfleisch, rotem Paprika, Tomaten, Erbsen, Gurke, Zwiebeln, Knobi, Ingwer, Eiern, Sojabohnenkeimlingen, Curry und anderen Gewürzen. 





2 Kommentare:

  1. Hallo, liebe "Rex-Mama!"

    Auch ich kenne das noch, glücklicherweise jedoch nur von anderen Eltern, die ihre Kinder bei Vergehen regelmäßig ohne Essen ins Bett schickten. - Ob es das heute auch noch so gibt. Mich gruselt es. Denn die betroffenen Personen, an die ich denke, mag ich allesamt nicht. - Aber vielleicht stimmt ja tatsächlich der alte Spruch: "Wer keine Liebe empfängt, kann auch keine weitergeben?"

    Umso Sensationeller finde ich, dass du bis zum Schluss mit deiner Mutter ausgehaart hast und sie gepflegt hast.

    "F" hat wohl offenbar auch ein großes Herz und ist ein Menschenversteher?
    In meinen Gedanken bin ich natürlich offen und würde niemand für ein Leben - gerade weil man vielleicht dazu gedrängt wurde - im Rotlicht verurteilen. Aber wäre das in der Realität auch so?

    Du hast so viele Gedanken in deinem Blog bei mir aufgeworfen?


    Wissen eigentlich deine Nichten das du einen Blog hast?
    Schauen sie ab und an in deinen Blog hinein?


    Wenn ich das Bild vom Nudelsalat betrachte, ist das wirklich ein Nudelsalat, der es in sich hat.

    Genau wie dieser Blogbeitrag der von Geschichte und Leben nur so strotzt.


    Liebe - fast Urlaubs - Grüße
    Vom lifeminder

    AntwortenLöschen
  2. Nein, lieber lifeminder, das wissen sie nicht, sie wissen eigentlich gar nichts mehr von mir, da wir ja kaum noch Kontakt haben.
    Gesehen habe ich sie zum letzten Mal am vorletzten Weihnachten und daran wird sich auch nichts ändern, da F. ja nun nicht mehr reisen kann.
    Meine Tante hatte übrigens nie etwas mit Zuhältern oder so am Hut, sie hat sich einen Raum in einem Laufhaus gemietet und ging dort ihrer Tätigkeit nach.
    Dass ich dem so locker gegenüberstand, ist sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass ich in den Siebzigern aufwuchs, eine Zeit, in der wir noch nicht aufgezwungen bekamen, was wir gefälligst alles gut zu finden bzw. als normal zu erachten haben, sondern es ging einfach sehr viel lockerer und unverkrampfter zu als heutzutage.
    Und glaube mir, sie ist ein wunderbarer Mensch, dem ich durchaus viel zu verdanken habe.
    Meine Mutter habe ich übrigens nie gepflegt, sie lebte ja 500 km von mir entfernt, nachdem sie sich nach Papas Tod in ihre Wohnung im Schwarzwald zurückgezogen hatte, wo sie ungestört dem Alkohol frönen konnte.
    Sie war dann ja auch erst 75, als dieser sie das Leben kostete.

    Liebe Ab-in-den-Urlaub-Grüße zurück, hab eine tolle Zeit! :-)

    AntwortenLöschen