Mittwoch, 17. Dezember 2025

Wenn man sich selbst zu verlieren droht

 Drei Tage lang hatte ich mich auf den langen Fußmärschen ziemlich gequält, irgendetwas schien mit dem kleinen Zeh und seinem Nachbarn am linken Fuß nicht zu stimmen und ich bemerkte sogar das Blut, machte mir aber gar nicht viel Gedanken darüber, wusch es ab und jut war's, zumal es auch kaum noch wehtat, wenn ich erst einmal wieder raus aus dem Schuhen war.

Inzwischen habe ich dann doch mal näher hingeschaut und festgestellt, dass der Nagel des kleinen Zehs zu lang war, er bohrte sich bei jedem Schritt in seinen Nebenkumpel hinein, klar, die Burschen sind feste Schuhe kaum gewohnt und in den letzten Wochen hatte ich wahrlich andere Dinge im Kopf gehabt, als mich um ausgiebige Pediküre zu kümmern, was mir im Sommer niemals passieren würde. 🙄

Wie eine Puppe fühle ich mich, eher noch wie eine Marionette, fast wie ferngesteuert erledige ich alles, was ansteht, gehe mit Rex Gassi, füttere ihn, wechsle sein Wasser, tue dies, tue jenes und nachdem ich beim üblichen Anruf um neue so gut wie nichts Neues erfuhr, drohte wieder mal alles über mir zusammenzuschlagen, dieses Warten ist so unerträglich, dieses Ausgeliefertsein, diese Hilflosigkeit.

Um halb elf am Vormittag überfiel mich bleierne Müdigkeit, völliges Erschöpftsein, also schloss ich die Hintertür, ließ mich noch einmal aufs Sofa sinken. Im nun unermüdlich dudelnden TV lief irgendetwas Langweiliges, vielleicht könnte ich ja noch ein Stündchen dösen?

Tatsächlich war ich gleich weg, doch kurz darauf riss mich das Telefon wieder hoch - mein Herz drohte auszusetzen wie immer, wenn es nun schellt, doch es war meine Tante, diese Liebe, die sich nach F. erkundigen wollte.

Ein kurzes, herzliches Gespräch, dann wurde es allmählich Zeit, mich fertigzumachen, auf feste Schuhe verzichtete ich, schlupfte in die Crocs und konnte somit fast schmerzfrei zum Krankenhaus laufen, auch wenn ich selber merkte, dass mich jeder Schritt sehr viel  Kraft kostete, ich mich mehr voranschleppte, als dass ich lief.

Bei F. wieder alles unverändert, bis auf dass man ihm den Kopf nun nach rechts geneigt hat, also muss ich mit meinem Höckerchen von der anderen Seite heran.

Er schläft ruhiger als die letzten Tage, scheint nichts von mir mitzubekommen, dann tauchte auch der Arzt auf und der Einfachheit halber kopiere ich hierher, was ich meiner Schwägerin später schrieb: 

"So, ich bin wieder daheim. Heute schlief er ganz friedlich, hatte nicht diese Zappelphasen und ich bin nicht mal sicher, ob er zumindest unterbewusst mitbekam, dass ich da war. Der Arzt sagte, die Lunge habe sich schön entspannt, die Entzündungswerte sind dank Antibiotika auch runter, nun wartet er noch auf Laborergebnisse, u.A. von Schleim, den er gestern gar nicht zu bieten hatte, aber heute konnten sie ihm wohl bissl entnehmen. Nun hoffe ich inständig, dass die dann morgen anfangen, das  Zeugs allmählich herunterzufahren. Dauert wohl länger und der Doc meinte, ich solle mal nicht damit rechnen,dass F. in den nächsten Tagen schon mit mir reden könne."

Warten, warten, warten ...., so unerträglich ist es und doch muss ich durch, überhaupt MUSS ich, wie mir auch der Arzt sagte.

Ihm fiel wohl auf, dass ich ziemlich fertig wirkte, er hakte nach, ich erzählte, dass es mit Essen und Schlafen im Moment sehr mau aussieht. Dann müsse ich mich zwingen, erklärte er mir, F. brauche mich schließlich ...

Ja, ich weiß es, ich muss ...

Auf dem Heimweg bekam ich Lust auf Quark, also ging ich noch bei Netto rein, besorgte Quark und einen halben Liter Buttermilch, die mir überhaupt nur ins Auge sprang, weil sie um 20 % reduziert war.

Ja,  Buttermilch würde gut sein, ich nahm sie mit und nachdem ich mich noch bei TEDI mit Leckerlis für Rex eingedeckt hatte, riss ich den Becher zu Hause sofort auf und begann gierig zu trinken. 

Auch ein paar Löffel Fertigkartoffelsalat und ein Ei bekam ich in mich hinein, nachdem ich mir die Mühe gemacht hatte, vier Eier auf Vorrat für die nächsten Tage zu kochen, dann wollte ich mich ums Scannen meiner Zahnarzt-Bonushefte kümmern, denn der Antrag für die Brücke liegt ja noch herum und will ausgefüllt werden.

Mist, mein Läppi tat so, als würde er die Scan-Funktion nicht finden, obwohl er anererseits meldete, dass er den Drucker erkenne, also versuchte ich mein Glück am großen PC und dort klappte es. (Wo am Läppi der Haken sitzt, muss ich noch klären, aber das kann warten, ist im Moment nicht wichtig.)

Dann ging ich nach oben, um die Teile der Bettwäsche, die schon trocken sind, wieder aufzuziehen, und war anschließend froh, dass noch etliche Umfragen auf mich warteten, so bekam ich den Abend einigermaßen herum.

Um elf wollte ich eigentlich Lanz schauen, das  Thema KI interessierte mich, aber nun forderte die Natur ihr Recht, weg war ich und schreckte um halb zwei in der Nacht wieder hoch.

Inzwischen ist es halb drei, ich versuche immer wieder die Intensivstation zu erreichen, um mich nach F.s Zustand zu erkundigen, doch niemand nimmt den Hörer ab. 

Verrückt macht mich das, vollends verrückt ...  

3:16 ... und immer noch niemanden erreicht, beim letzten Versuch sprang das Frei- nach fünf- oder sechsmaligem Schellen plötzlich auf Besetztzeichen um.

Hoffentlich liegt es nur an deren Telefonanlage ...

Nun ist es 9:31, ich habe endlich jemanden erreicht, F.s Zustand ist unverändert und auf meine Frage, ob man ihn denn nicht allmählich endlich mal aufwachen lassen wolle, erfuhr ich, er habe gehört, "heute wolle man es wohl mal versuchen". Was immer das bedeuten mag ... 

Wann ich kommen darf, weiß ich noch nicht, ich soll  kurz vorher noch mal anrufen und nun geht es weiter mit der Warterei.

Nur unterbrochen von Gedanken über das, was ich heute Nacht im TV mitbekam, während ich hier so blöd herumsaß und mir die Finger wund orgelte.

Es ging um Liebe und Sex in anderen Kulturen, unter anderem war die Reporterin in Saudi-Arabien unterwegs, befragte in einfühlsamer und respektvoller Art Menschen auf der Straße, in Einkaufszentren und hatte sogar eine Verabredung mit einem durch und durch konservativen Scheich, der ihr stolz seine Kamelherde vorführte.

Nein, männliche und weibliche Kamele würden nur zur Begattung zusammengeführt, ansonsten passten sie nicht zusammen und würden getrennt voneinander leben - was für ein Sinnbild und es brachte mich dazu, mich zu fragen, ob der Mensch sich diesbezüglich vielleicht schon vor Urzeiten bestimmte Verhaltensweisen einfach von seinen Tieren abgeschaut hat?

In den letzten Jahren sind die Saudis deutlich lockerer geworden, Frauen dürfen Auto fahren und arbeiten, wenn auch nur, wenn es dort nicht zu Kontakten mit Männern kommt, die Gesichtsverschleierung ist nicht mehr vorgeschrieben und die langen Gewänder der Frauen müssen nicht mehr zwingend schwarz sein. Die Religionspolizei gibt es nach wie vor, aber sie schreitet  nicht mehr ein, nur weil ein paar Haare sichtbar sind, sondern erst, wenn es um Haut geht ...

Das Erstaunen der etwas älteren und sicher lebenserfahrenen Reporterin darüber war nicht zu übersehen, dass die befragten Frauen samt und sonders so richtig glücklich und zufrieden wirkten mit den Zuständen, in denen sie leben. Eine war Tochter eines schwerreichen Tower- und Hotelbesitzeres, sie hatte in England studiert, hielt sich auch beruflich immer wieder mal dort auf, kannte also beide Welten, kehrte aber immer wieder mit großer Freude in die Sicherheit ihrer Heimat zurück.

Und das war meiner Meinung nach der springende Punkt, ja, die Menschen dort, vor allem die Frauen, haben sehr viel weniger Freiheit als wir im Westen, dafür scheint ihnen das starre Regelkorsett aber tatsächlich einen sicheren Rahmen zu bieten und erstaunlicherweise hörte ich es ähnlich wie von A., man fühle sich als Frau unter seiner Verhüllung sehr respektiert, man lege sehr viel wert auf diese Ehre. 

Und damit wären wir auch gleich bei dieser utopischen Vorstellung von Integration, der man sich hier im Westen so gerne hingibt: Immer man rin mit allen in die gute Stube, irgendwie wird sich das schon alles angleichen.

Nein, das wird es nicht, dem stehen Sozialisation und intensiv gelebte, patriarchalische Religion im Wege und am Ende läuft es so wie bei den Kamelen des Scheiches, jede der (vermeintlich nicht zusammenpassenden) Gruppen lebt für sich und hat nur sehr begrenzte Berührungspunkte.

Noch eines geht mir nicht aus dem Sinn, denn eine der befragten Frauen gab ihre Freude zum Ausdruck darüber, dass sie nach den Regellockerungen neuerdings ihren erwachsenen Sohn in den Arm nehmen darf, wenn sie ihn trifft, zuvor war das wohl streng verboten.

Bei Gelegenheit muss ich A. oder vielleicht auch ihre Freudin F. mal dazu befragen, wie das bei ihnen gehandhabt wird ...

So, immerhin habe ich nun gemerkt, dass mein Kopf doch noch zu Gedanken fähig ist, die nicht ausschließlich um F. und seinen Zustand kreisen, aber jetzt muss ich mich der Realität wieder stellen und überlegen, ob ich den monatlichen Bankbesuch heute erledigen sollte?

 

Habt einen guten Tag und ... bleibt bitte gesund!  

 

 

4 Kommentare:

  1. Kannst du mit einem Nagelklipser den Nagel zurück schneiden so, daß es keine Probleme mehr gibt. Ich hoffe, daß es gute Neuigkeiten gibt, wenn F zurück ins Leben kommt. Man sollte genügend Kleingeld haben um eine Wohnung bei den Saudis zu bekommen. Der große Vorteil hier :KEINE Kriegsprobleme und kein Digitaler EURO. Und kein weitere Schulden für alle andere Menschen in dieser Welt. Bevorzugt für das neue Bundesland Ukraine

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    1. Lach, ja, grundsätzlich weiß ich schon, wie man Nägel kürzt, nur ... muss man halt auch dran denken. ;-)

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  2. Hallo, Liebe Rex-Mama!

    Diese Mischung aus Erschöpfung, Sorge, Hoffnung und diesem endlosen Warten geht einem wirklich tief unter die Haut.

    Man spürt auch heute in jeder Zeile, wie sehr du funktionierst (und funktionieren willst), obwohl innen alles wankt.

    Ich glaube niemand - der nicht in deiner Situation steckt - kann erahne wie viel Kraft dich das kostet.

    Deine Gedanken in der Nacht zeigen aber auch, dass dein Kopf und dein Herz noch da sind, dass du mehr bist als nur die Wartende oder sogar abwartende.

    Und ja, auch du darfst dir mal einen schwachen Moment gönnen.


    Ich wünsche dir und „F“ weiterhin von Herzen Kraft, Auszeiten und vor allem mehr als alles andere gute Nachrichten!


    Liebe – 23 Uhr 58 – Grüße
    lifeminder

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    1. Du hast es perfekt zusammengefasst, lieber lifeminder, danke dir fürs Mitfühlen, dein Dasein und die lieben Worte! 🤗

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