Donnerstag, 18. Dezember 2025

Gerade überlege ich, ob ...

 ... es in bisher vierzigeinhalb gemeinsamen Jahren wohl jemals einen Tag gab, an dem ich F.s Stimme nicht gehört hätte?

Nein, ich denke nicht, mit Ausnahme der zwei Tage natürlich, an denen sie ihn auch vor ziemlich genau einem Jahr ins künstliche Koma versetzten.

Und nun sind es schon fünf Tage, doch immerhin erfuhr ich beim Anruf mittags um 12, dass sie nun begonnen haben, das Narkosemittel allmählich zu reduzieren.

Ich durfte wieder ab 14 Uhr auf der Station aufschlagen, also erledigte ich zunächst die anstehenden Dinge auf der Sparkasse und marschierte dann weiter zum KH.

Wenn man schellt, erscheint normalerweise innerhalb einer oder zwei Minuten jemand, um einen einzulassen, doch heute war es anders, ich stand mir die Beine in den Bauch und bekam dann Gesellschaft von einer jungen Rumänin.

Ihre Familie war mir schon vor drei Tagen aufgefallen, just als ich die Station verließ, begehrten sie zu sechst oder siebt Einlass und ich ging innerlich kopfschüttelnd davon, denn so etwas geht natürlich auf einer Intensivstation gar nicht und ist auch auf den normalen nicht unbedingt wünschenswert.

Nun allerdings musste ich meinen ersten Eindruck revidieren, denn die junge Frau sprach perfektes Deutsch, erstaunlicherweise auch mit allen, die sie während unserer gemeinsamen Wartezeit am Handy anriefen, und ich hörte heraus, dass sie ein wenig in Zeitdruck war, weil am späten Nachmittag noch die Weihnachtsfeier ihrer Firma anstand.

Ihre Oma ist es, die in nicht sehr gutem Zustand in F.s Nachbarraum liegt, alle sind in großer Sorge um sie - sie seien zu elft, erzählte sie, am liebsten würden sie die Oma immer alle gleichzeitig besuchen, aber mehr als zwei von ihnen würden nicht gemeinsam eingelassen.

Nun ... eine Viertelstunde nach dem Klingeln ... tauchte endlich ein Schatten hinter der Milchglastür auf, eine junge Frau ließ erst sie ein, bat mich zu warten, dann kam sie zurück und gewährte auch mir Einlass.

F. fand ich weiter tief schlafend vor und sofort sprang mir ins Auge, dass die blaue Sauerstoffanzeige auf dem Monitor nur aus einem Fragezeichen bestand.

Kein Wunder, die Klammer lag ja auch neben seinem Ohr, statt an ihm zu hängen. Sollte ich sie ihm dranmachen oder war das womöglich Absicht?

Nein, lieber fragen, zum Glück tauchte in dem Moment ein Pfleger auf, den ich bisher noch nicht kannte, und brachte das in Ordnung.

"Da hat er wohl den Kopf bewegt, dabei ist es abgeruscht", meinte er und ich hakte sofort nach, "Dann kann er den Kopf also schon wieder eigenständig bewegen?"

Der Mann nickte und erzählte dann, er habe F. auch noch munter erlebt, er sei dabei gewesen, als man ihn am Samstag schlafen schickte, und natürlich wollte ich nun mehr wissen, hatte er mir doch am Abend und auch am frühen Morgen aufgrund seiner WhatsApp-Nachrichten durchaus nicht nach "ich kann nicht mehr" gewirkt, so wie mir das hier jetzt alle weismachen wollen.

Noch einmal sagte ich, dass ich es mir schon vorstellen konnte, dass F. sich am Ende sah, weil sie ihn die ganze Nacht mit der Sauerstoffmaske gequält hatten, die ihn ja sehr schmerzte, aber nun hörte ich, nein, es habe nicht nur daran gelegen, sondern auch die Werte seien sehr schlecht gewesen.

Welche Werte er meinte, erfuhr ich nicht, aber es konnte sich eigentlich  nur ums CO2 handeln, das aber ja gar nicht mehr in den Normalbereich zu bekommen ist, wie ja auch der Arzt gestern einsah.

Nach wie vor denke ich, dass das alles nicht wirklich nötig war und dass F. nicht bewusst war, was die mit ihm vorhatten, und ich bin ungeheuer gespannt, ob er sich an den Samstagmorgen überhaupt wird erinnern können.

Wozu er aber erst einmal wieder wach sein und selber atmen muss ...

Den ganzen Kopf hat er nicht bewegt, während ich bei ihm war, aber immerhin die Mundwinkel zuckten ab und zu und ich sah nicht nur seinen Brustkorb sich heben und senken, sondern auch am Hals gab es Bewegung, so als würde dieser sich schon ums Atmen bemühen.

Irgendwann stand ich auf und schaltete am Fernseher einen Radiosender ganz leise ein, genauso mag er es, wenn etwas dudelt im Hintergrund.

Die ganze Zeit spielte ich mit seiner Hand, massierte die Finger, streichelte, was das Zeug hielt, und hatte ich eben noch das Gefühl, dass er nichts von meiner Anwesenheit wahrnahm, änderte sich dies, als ich ankündigte, demnächst aufbrechen zu wollen, weil es bereits stark dämmerte.

Auf einmal kam Leben in seine Finger, erst nur ein leichtes Zucken, dann aber drückte er mit seinem Daumen deutlich wahrnehmbar immer wieder auf  meine Hand.

Hach, wieeee schöööön, mit einem "jaaa, weiter so" jubelte ich ihm zu, strich ihm über Stirn und Schläfen, massierte weiter seine Hand, bekam immer wieder seine "Antwort" und schließlich verabschiedete ich mich mit dem Hinweis, dass er nun noch ein wenig schlafen müsse, wir morgen aber noch sehr viel mehr "Kribbi" machen könnten, dann etwas wacher als jetzt.

Und darauf baue ich nun mit aller Kraft, dass er sanft aufgeweckt wird und das mit dem Atemwechsel reibungslos funktionieren wird. 

Es musssss einfach ...

Daheim warf ich sofort die nächste Waschladung an, irgendwie hört es grad nicht auf, denn nicht nur die Betten, sondern auch sämtliche Wolldecken (z.B. aus seinem TV-Sessel) usw. sollen ja ganz frisch sein, wenn er wiederkommt, und dann beschloss ich kurz meine Tante anzurufen, um sie auf den neuesten Stand zu bringen.

Worüber sie sich sehr freute, denn sie würde ständig an uns denken, meinte sie.

Als sie erfuhr, dass ich Weihnachten und möglicherweise auch noch Silvester alleine hier sitzen werde, tat ihr das schrecklich leid, sofort sann sie nach einem Ausweg und - hihi - schlug mir dann doch tatsächlich vor, ob ich dann nicht vielleicht gemeinsam mit meiner anderen Tante feiern könnte. (Sie ist ja die Frau von Mutterns Bruder und sprach nun von der Schwester der beiden.)

"Na, du bist jut", sagte ich lachend, "bei mir herrscht grad Chaos, alles ist zeitlich ausschließlich auf meine Besuche bei F. ausgerichtet, und da würde mir dann nix Besseres einfallen, als mir eine alte Dame zu Besuch einzuladen, der ich drei Mahlzeiten täglich auftischen muss???" 😮

Nun musste auch sie lachen und sah ein, dass ich so etwas im Moment weiß Gott nicht gebrauchen könnte.

Dann wurde es wieder weniger lustig, denn nun erzählte sie, dass auch mein Cousin krankgeschrieben ist, er hat schon wieder eine Thrombose am Bein.

Ach du liebe Zeit - ob er wissen dürfe, dass sie mir das erzählt habe, fragte ich und sie bestätigte, also schrieb ich ihn dann gleich an, um ihm gute Besserung zu wünschen. 

Abends antwortete er, er habe mich damit nicht zusätzlich belasten wollen, sonst hätte er mir auch selbst davon geschrieben und das Ding sei 42 cm lang. Wusste ich bisher gar nicht, dass man Thrombosen in Längeneinheiten messen kann, aber er mochte nun auch nicht weiter whatsappen, versprach, mich am nächsten Morgen mal anzurufen.

Als ich dann etwas in der Küche zu wurschteln hatte, fiel mein Blick unweigerlich aus dem Fenster nach gegenüber, zum "Haus der toten Augen".

So schade ist es, denn einst, als U. dort noch mit riesiger Familie lebte, sah ich stets Licht und es herrschte reges Treiben hinter den Fenstern.

Dann kam die Scheidung, das Haus wurde aufgeteilt in verschiedene Wohnbereiche, nun wohnt ihr Sohn S. in der unteren Etage, ganz oben die 17-jährige Tochter und in der Mitte U., deren Auto ich aber schon seit Monaten nur noch für Stippvisiten sehe - offenbar ist sie inzwischen ganz zu ihrem neuen Freund gezogen.

Und was allen drei Etagen zu eigen ist, jedes Fenster ist nun mit einem völlig blickdichten Rollo versehen, d.h. egal, ob jemand daheim ist oder nicht, ich schaue immer nur auf tote Fenster, daher der Name ...

Jetzt aber sah ich Leben, beide Rollos von S. waren hochgezogen, innen war er mir Kumpels zugange und fast wirkte es wie Umzugsvorbereitungen auf mich, zumal er auch den Hänger an seinen Daimler gehängt hatte.

Die würden mich doch nun nicht auch noch alle verlassen da drüben ...? 😮

Das wollte ich klären, also schrieb ich den "Bub", den ich ja schon als Kleinkind kannte, an und fragte einfach nach.

Nein, noch wolle er nicht umziehen, lautete die Antwort, aber so in zwei oder drei Jahren habe er es dann schon vor. Im Moment sei er nur am Schrotten und Aufräumen. 

Erstaunlich, der wohnt vielleicht anderthalb Jahre da unten und  hat es in dieser kurzen Zeit schon geschafft, die Bude zuzumüllen? 

Na ja, kann mir egal sein, dieser Hang zu etwas chaotischen Wohnverhältnissen gehört in manchen Familien zu dem, was sich von Generation zu Generation weitervererbt, was für mich zählt, ist dass mir damit wieder ein Stück von Vertrautem verloren gehen wird, wenn wohl auch noch nicht heute oder morgen.

Und dann kam mir noch ein zündender Gedanke, den ich gleich in die Frage ummünzte, ob er infolge des Schrottens auch zum Recyclinghof fahren würde, denn ich hatte ja immer noch die große Henkeltasche hier im Wege herumstehen mit den ausgemusterten Laptops sowie einem alten Backblech.

Und da ich keine Ahnung habe, ob und wann F. noch einmal wird Auto fahren können, drückte ich ihm meine Schätze aufs Auge. Er versprach gerne, das für mich mitzunehmen, also sprang ich schnell über die Straße und reichte ihm die Tasche durchs Fenster hoch.

Den Rest des Abends verbrachte ich mit Umfragen, dem Jahresrückblick von Markus Lanz, bei dem unser Oberbürgermeister zu Gast war und von den 25.600 Rumänen und Bulgaren berichtete, die unserer Stadt das Leben schwer machen. Ihm selber seien weitgehend die Hände gebunden, erzählte der SPD-Mann, Hilfe könne nur aus Berlin kommen, aber dort habe man sich bisher taub gestellt, der bisher grün-rote Mainstream habe solche Probleme lieber unter den Teppich gekehrt gehalten und sich auf Allgemeinplätze wie "Ja, da muss man etwas tun" beschränkt.

Und das Wichtigste und Angenehmste war, dass ich den Abend nicht allein, sondern im fortwährenden blognachbarschaftlichen Austausch verbrachte. Nix Verkrampftes, keine Konversation mit allen Höflichkeitsfloskeln, sondern so, wie ich es mag, jeder macht seinen Kram und ab und zu fliegen ein paar Worte hin und her, so wie es halt gerade passt. 

Um Mitternacht erfuhr ich von der Nachtschwester nichts Neues und genauso war es auch eben beim neuerlichen Anruf. Man hat  Narkose- und kreislaufunterstützende Mittel wieder ein wenig reduziert, aber F. atmet immer noch nicht eigenständig und ist wohl  noch weit vom Bewusstsein entfernt. 

Heute Mittag um zwei werde ich hoffentlich schon ein wenig mehr Fortschritt sehen ...

 

Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte unbedingt gesund!  

 

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen