Wie kann es dann sein, dass ich seit Tagen mittendrinstecke?
Gerade telefonierte ich mit der Station, es sei alles unverändert, erfuhr ich, gerade habe der Stationsarzt die Atmungseinstellungen noch einmal optimiert und heute müsse F. auf jeden Fall noch weiterschlafen. Morgen sehe man dann weiter ...
Gestern Morgen rief mich meine Tante an, die am Vorabend von meinem Cousin über das, was bei uns gerade los ist, informiert wurde, und wieder staunte ich, wie glasklar im Kopf diese Frau mit ihren 87 Jahren ist.
Ein uraltes Foto habe sie gefunden, auf dem ich mit ihrer ältesten Tochter spiele, die ja leider vor einem Jahr starb. Wer von uns denn eigentlich älter sei?
G. war es - ich wurde ein Jahr nach ihr geboren, so kamen wir vom Höcksken aufs Stöcksken und ganz interessant fand ich, als sie sich erkundigte, wie es bei uns denn eigentlich mit Alkohol aussähe.
"F. trinkt alle Jubeljahre mal ne Flasche Bier, ich selber gar nix", sagte ich und als sie nachhakte, ob wirklich keinen Tropfen, bestätigte ich dies mit dem Hinweis, dass dieser in unserer Familie einfach nicht guttue.
Das sei bei ihnen ähnlich gelaufen, erfuhr ich nun, ab ihrem 50. Geburtstag habe sie auch nichts mehr getrunken, weil ihr Arzt gemeint habe, sie müsse sich entscheiden - saufen oder leben.
Wobei sie aber nicht wirklich gesoffen hätte, fügte sie nun doch noch hinzu, aber es sei wohl allgemein einfach zu viel gewesen, so wie das auf Dörfern eben oft üblich sei.
Dann vertraute sie mir an, dass mein Cousin zwischen den Feiertagen Silberhochzeit begehen würde, aber ... ich solle ihm nicht verraten, dass sie mir das verraten habe ...
Warum auch immer man darin einen Grund zur Geheimhaltung sehen kann, aber das ist ja etwas, das in vielen Familien gang und gäbe ist, schweige über dies und über jenes redet man auch nicht.
Und wenn man dann mal nachhakt, kann einem keiner so genau sagen, warum man das eigentlich so halte, man sei es eben so gewohnt - immer das Gleiche, es setzt sich fort ohne jedes Hinterfragen.
Dann wollte sie noch wissen, wie lange wir eigentlich verheiratet sind.
"Im März werden es 40 Jahre ..."
"Siehst du, ihr gehört eben auch noch zu denen, die etwas aus- und dann auch durchhalten, ohne beim kleinsten Problem gleich die Flinte ins Korn zu werfen und sich zu trennen", meinte sie, denn das erlebe sie heutzutage leider oft ganz anders, da ginge man für Nichtigkeiten gleich auseinander.
Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, meldete sich nach ziemlich langem Schweigen mal wieder mein Bruder über WhatsApp, schickte mir einen Zeitungsartikel, aus dem mir die jüngere seiner Töchter entgegenstrahlte. In ihrer Eigenschaft als "Juniorbotschafterin der Europäischen Union" war sie gemeinsam mit anderen in Brüssel und Brüderlein meinte trocken dazu: "Als Politiker hat man schnell ausgesorgt."
Was ich bestätigen konnte: Lernen oder gar können musst du dann gar nix mehr, von der Schule aus gleich rein in die Politik und du hast wahrlich für immer ausgesorgt ...
Dann erwähnte ich kurz, dass F. sich auf der Intensivstation im künstlichen Koma befinde, seine Antwort lautete: "Ach du je, und das zu Weihnachten."
Mehr kam nicht, aber mir war schon klar, dass ihn das sofort ans verhängnisvolle Jahr 2008 erinnerte, an das ich im Moment jeden Gedanken zu vermeiden versuche.
Um 14 Uhr schellte ich an der Tür der Intensivstation, meine Lieblingsschwester ließ mich ein, erzählte, dass sie versuchten, die Dosierung der Narkose so niedrig wie möglich zu halten, und dann fand ich F. mehr oder weniger unverändert vor, nur der Kopf lag jetzt nicht mehr auf der Seite, sondern gerade.
Ich suchte mir unter der Decke ein freies Zipfelchen seines Unterarmes, streichelte, massierte ihn ganz vorsichtig, redete leise mit ihm und dann bekam ich einen Schrecken, denn er begann den Mund zu bewegen, schob die Zunge heraus, wurde zusehends unruhiger.
Schnell sprang ich auf den Gang, fragte einen vorbeikommenden Pfleger, ob das so in Ordnung sei, er meinte ja, also kehrte ich zurück, F. beruhigte sich, doch dann ging es erneut los und nun gelang es ihm sogar, die Augen ganz leicht zu öffnen, nur einen winzigen Spalt, aber ich hatte immer mehr das Gefühl, dass er dringend rauswollte aus dieser Situation, so als bekomme er alles mit, sei aber unfähig zu reagieren.
Wie in meinen übelsten Alpträumen, was für eine Hölle ... und doch konnte ich nichts machen, ihm so gar nicht helfen in seiner Not.
Ehrlich, es zerreißt mir das Herz, mehr als ich es je in Worte fassen könnte, es zerfetzt mich innerlich und wohl noch nie im Leben habe ich mich so sehr nach etwas gesehnt wie jetzt danach, endlich wieder seine Stimme hören zu können.
Als es zu dämmern begann, beschloss ich mich auf den Heimweg zu machen, erklärte es ihm und prompt wurde er wieder unruhig, was für mich der eindeutige Beweis ist, dass er sehr viel mehr mitbekommt, als die Ärzte denken. Die Frage ist nur, ob er hinterher noch etwas davon wissen wird.
Wäre es doch nur endlich so weit ...
Bevor ich mich später in die Wanne setzte, stieg ich auf die Waage, stellte fest, dass ich durch diesen Stress bereits vier Kilo abgenommen hatte, also zwang ich mich hinterher etwas zu essen. Mit größtem Widerwillen, aber immerhin ein paar Kalorien schaffte ich aufzunehmen.
Am Abend half mir der netteste Blognachbar aller Zeiten mit einem regen WhatsApp-Austausch, die trotz Rex schreckliche Leere des Hauses besser zu ertragen, um Mitternacht rief ich noch einmal auf der Station an, dann fiel ich - völlig erschöpft - in eine Art bleiernen Panikschlaf, aus dem mich Rex um fünfe rausriss, weil er Lust auf Frühstück hatte.
Also gut, starteten wir halt in den Tag und mit allerlei Tätigkeiten überbrückte ich die Zeit bis 9 Uhr, denn dann sollte ich anrufen, wie es aussähe.
Immer noch unverändert - der Arzt sei gerade da gewesen und habe die Atmungseinstellungen noch einmal optimiert, erfuhr ich und ansonsten ... wolle man ihn heute auf jeden Fall noch weiterschlafen lassen. Morgen würde man dann weitersehen ...
Was für eine Hölle ...
Und trotzdem muss ich mich zusammenreißen, einen klaren Kopf bewahren, mich kümmern ...
Zum Glück darf ich auch heute wieder schon um 14 Uhr kommen, was ich nutzen werde, um sowohl vor meinem Besuch bei F. wie auch hinterher noch einmal gegenüber ins Ärztehaus hineinzuspringen. Meine Frauenärztin hat durchgehend bis 15 Uhr geöffnet, also kann ich dort vorher meine Karte einlesen lassen, um die benötigte Salbe ordern zu können, der Lungen-Doc öffnet nachmittags von 15 bis 17 Uhr - perfekt, denn so kann ich dann auch dort noch hinein, den Termin für Freitag absagen und auch dort F.s Karte einlesen lassen, damit er sein Notspray in ausreichender Menge hat, wenn er heimkommt.
Dann noch weiter zu Rossmann, ich brauche dringend Nachschub an Traubenzucker, ohne den bei mir im Moment gar nix geht, und wenn ich dann wieder zu Hause bin, geht die Warterei wieder los, warten, warten, warten und hoffen, hoffen, hoffen ...
Morgen früh darf ich nicht vergessen, das Altpapier rauszustellen, außerdem hat F. den neuen Müllkalender fürs nächste Jahr noch nicht ausgefüllt, also sollte ich das selbst erledigen und der Antrag auf meine Zahnbrücke muss auch noch ausgefüllt werden, das Bonusheft kopiert ...
Und nun ist die Maschine fertig, also gehe ich jetzt erst mal die Bettwäsche aufhängen ...
Habt einen schönen Tag und ... bleibt bitte gesund!
PS: Und hier noch ein Lied, das mir gerade oft in den Kopf kommt:


